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in der Kirche S. Francesco zu Perugia und wurde schon von Vasari als Werk des Pietro Perugino erwähnt. (Ediz. Lemonnier, VI, 42). Orsini schreibt es ebenfalls demselben zu. In neuester Zeit jedoch, als es im großen Saale des Vaticans aufgestellt wurde, fanden einige Kunstforscher im Gesichte des einen Wächters die Züge des Perugino, in jenen des andern schlafenden die des jungen Raffael. Seit dieser Entdeckung wurde das Bild umgetauft und als gemeinsames Werk des Perugino und des Raffael erklärt. Herr Passavant sah daher in diesem Gemälde einen rührenden Beweis der innigen Freundschaft, die Lehrer und Schüler verband. Da diese Deutung liebenswürdig, ja fast sentimental klingt, mundet sie dem modernen Kunstpublikum, besonders den Damen. Meinerseits kann ich in diesem Gemälde wahrlich weder die Farben, noch die Formen, noch irgend einen Zug des Urbinaten erkennen; wohl glaube ich dagegen ganz bestimmt die Hand des Giovanni Spagna darin wahrzunehmen, welchem Gehülfen Meister Perugino wahrscheinlich die Ausführung des Bildes nach seinem Karton mag überlassen haben[1].

5) Auch in dem herrlichen Triptychon, das Perugino für die Certosa bei Pavia gemalt (jetzt in der Nationalgalerie zu London), wollte nicht nur Passavant[2], sondern vor ihm schon Baron von Rumohr, die Hand des jungen Raffael erkennen. Perugino malte aber höchst wahrscheinlich dies Bild, eines seiner vollkommensten Werke, noch im 15. Jahrhundert, als Raffael noch in Urbino weilte.


  1. Auch dies Bild wird, wie später die „Krönung Mariae“ von Raffael, als Werk des Meisters selbst aus der Werkstatt des Perugino an den Besteller gelangt sein, weßhalb es dann Vasari, seinem Berichterstatter folgend, dem P. Perugino zuschrieb.
  2. II, 4. Die Zeichnung zum Engel, der den Tobias in diesem Bilde führt, befindet sich in der Sammlung von Oxford. „Ce dessin, sagt Passavant, qui passa de la succession de Lawrence dans la collection d’Oxford, peut être considiré, a juste titre, comme un ouvrage de la jeunesse de Raphael.“
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/374&oldid=- (Version vom 31.7.2018)