Seite:Die Werke italienischer Meister (Morelli).pdf/387

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nach der Federzeichnung des Pinturicchio in der Albertina gemalt, so werden wir unwillkürlich zur Annahme geführt, daß Raffael während seines Aufenthaltes in Perugia auch mit Pinturicchio in nahen freundlichen Beziehungen gestanden habe. Bei einem solchen Freundschaftsverhältniß zwischen dem fast fünfzigjährigen Decemvir Pinturicchio und dem zwanzigjährigen Raffael liegt die Vermuthung auf der Hand, daß der junge Urbinate aus Lernbegierde öfters auch die Werkstätte des berühmten Pinturicchio besucht habe. Jene bekannte Zeichnung in der Sammlung von Oxford[1], welche vier aufrecht stehende junge Männer darstellt, von denen drei auf eine Lanze sich stützen, liefert uns, meine ich, den besten Beweis für die Richtigkeit dieser Hypothese. Auf dieser Zeichnung sehen wir nämlich denselben Jüngling in verschiedenen Stellungen dargestellt. Es ist also eine Studie nach der Natur, ein s. g. Aktstudium, und keine Composition. Hat nun Pinturicchio zur selben Stunde und nach demselben Modell dieselben Studien gemacht, was ich für das Wahrscheinlichste halte, oder hat er diese Aktstudie von Raffael für eines seiner Wandgemälde in der Libreria von Siena entliehen?

Soviel ist zunächst gewiß, daß Pinturicchio in einem seiner sienesischen Fresken drei von diesen vier Burschen im Mittelgrunde angebracht hat, mit Modificationen der Zeichnung: Zum Beispiel der junge Krieger mit der Lanze und dem gelben Mäntelchen, welcher auf der Aktzeichnung von Raffael, fast im Profil gesehen, nach links schaut, hält in der Freske den Kopf nach rechts gewendet; der andere Bursche, der Führer, der mit rother Mütze den anderen voranschreitet, läßt im Freskobilde seinen auf die Spitze gestellten linken Fuß ganz sehen, während er auf dem Blatte Raffael’s anders gestellt ist, auch hält derselbe bei


  1. No. 14 im Kataloge der Raffaelischen Zeichnungen von Herrn I. C. Robinson.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/387&oldid=- (Version vom 31.7.2018)