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Pinturicchio den rechten Arm ausgestreckt und hat überdieß einen Stock in der Hand, Einzelheiten, welche auf der Zeichnung Raffael’s anders sich darstellen. Die mittlere Figur in der Aktstudie Raffael’s fehlt in der Freske. Uebrigens ist die Gruppe bei Pinturicchio viel lebendiger als in der Studie Raffael’s.

Auf Grund dieser Beobachtungen scheint mir die Vermuthung erlaubt, daß der junge Raffael im Atelier des Pinturicchio dieselbe Figur in verschiedenen Stellungen nach der Natur wahrscheinlich gemeinschaftlich mit seinem ältern Freunde Pinturicchio gezeichnet habe. Wäre es doch beinahe lächerlich, anzunehmen, daß ein in seiner Kunst ergrauter Meister, der gewesene Hofmaler des Papstes Alexander VI., von einem zwanzigjährigen Jüngling die Komposition zu seinem Werke in der Libreria des Domes von Siena sich habe anfertigen lassen.

Vasari, der, wie dies auch schon Baron von Rumohr zu bemerken Gelegenheit nahm (II, 330), auf den Pinturicchio nicht eben gut zu sprechen war, hat nur die von der sienesischen Municipaleitelkeit erfundene Fabel blindlings für baare Münze angenommen und sie durch sein Werk in Umgang gesetzt[1].


  1. Siehe darüber den Commentar der florentinischen Herausgeber des Vasari (Ediz. Le Monnier V, 287). In dem dort mitgetheilten Vertrage heißt es unter anderm: Item sia tenuto fare tutti li disegni delle istorie di sua mano, in cartoni et in muro, fare le teste di sua mano tutte in fresco, et in secho ritocchare et finire infino alla perfectione etc.
    Mir ist es ein Räthsel, wie Rumohr im Stande war, in jenen Fresken von Siena so viele verschiedene Hände zu gewahren. Derselbe sagt nämlich (III, 45). „Sichtlich haben in der Libreria viele Gehülfen die Hand angelegt; in der Krönung des Aeneas Sylvius zum öffentlichen Poeten ist des Sodoma Hand, Geist und Geschmack unverkennbar(!!). An anderen Stellen macht sich Pacchiarotto bemerklich – – anderen, minder begabten Gehülfen ist das geringere in diesen Ausführungen beizumessen; Raffael’s Hand indeß verräth sich nirgends, nicht einmal in den beiden Gemälden, welche sicher nach seinen Entwürfen (was ebenfalls unrichtig ist) ausgeführt worden sind.“
    (Ist irgend eines Gehülfen Hand in der einen oder der anderen jener Fresken bemerklich, so dürfte es, meiner Ansicht nach, in einigen Landschaften die des Matteo Balduzzi sein.)
    Anderer Meinung sind die Herren Cr. und Cav. (III, 281), die da sagen: We have no doubt that he is correctly described by Vasari as having engaged many of the apprentices and workmen in the shool of Perugino. We shall find that amongst these young Raphael was probably included, und Seite 287: and the ressemblance of style between those of young Sanzio now at Venice (Zeichnungen) and others which repeat scenes depicted in the Piccolomini(?) library strengthens the belief that he did so.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/388&oldid=- (Version vom 31.7.2018)