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Meiner Ansicht nach sind die sieben oben bezeichneten Werke, natürlich neben vielen Zeichnungen, die hier aufzuführen zu weit führen würde, von Raffael während der ersten drei Jahre seines Aufenthaltes in Perugia und unter dem unmittelbaren Einflusse seines Meisters Pietro Perugino ausgeführt worden, also zwischen den Jahren 1500 und 1503. Gegen Ende des letzteren Jahres begab sich Pietro nach Florenz und brachte dann die meiste Zeit der folgenden Jahre 1504 und 1505 theils hier, theils in Città della Pieve, seinem Geburtsorte, zu.

Nach der Abreise seines Meisters sich selbst überlassen[1],


  1. Die Reise Raffael’s nach Siena, um dort dem Pinturicchio in seinen Frescomalereien in der Libreria des Domes hülfreiche Hand zu leisten, nimmt heutzutage wohl kein ernsterer Kunstforscher noch an. Es war dies offenbar eine pure Erfindung des sienesischen Lokalpatriotismus. Ist doch kein Zug in jenen Frescobildern wahrzunehmen, der über die Kunstfähigkeit des Pinturicchio hinausginge, im Gegentheil scheinen mir in denselben die Fehler des Meisters sowohl in den Compositionen als auch in der Zeichnung vielleicht stärker als anderswo zu Tage zu treten. Passavant giebt zwar zu, daß Raffael an jenen Fresken keinen direkten Antheil gehabt habe, und citirt zum Beweise die „Geschichte von Siena“ von Sigismund Tizio, worin ja kein Wort stehe, das auf eine Cooperation Raffael’s an jenen Wandgemälden sich deuten ließe(!!). Da jedoch die Federzeichnung nach den Grazien in Marmor, die sich in jener Libreria befanden, als Zeichnung Raffael’s allgemein anerkannt werde (diese Zeichnung gehört zum Cyclus sogenannter Raffaelischer Handzeichnungen in der venezianischen Akademie), so müsse, schließt Passavant, der junge Raffael sich in Siena längere Zeit aufgehalten haben (I, 60). Wie wir jedoch bereits gesehen, gehört auch die Zeichnung mit den zwei Grazien nicht Raffael, sondern dem Pinturicchio an.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/389&oldid=- (Version vom 31.7.2018)