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seine „bella Villanella“ zu nennen pflegte. Erinnert nun Raffael in den zwei erstern der eben genannten Madonnenbildern mehr an Timoteo denn an Perugino[1], so erscheint n dem letzteren Bilde der junge Künstler schon in seiner ganzen Selbständigkeit vor unsern Augen. Aus diesem Bilde weht der bezaubernde Duft seiner göttlichen Seele in seiner ganzen Fülle uns entgegen. Im Madonnenbilde der Berliner Galerie (No. 145) behält Raffael, an Pinturicchio sich anschmiegend, die von der sienesischen Schule nach Perugia gebrachte Anordnung bei mit den zwei zur Seite der Madonna stehenden Heiligen, gerade so wie wir dies auf den meisten Madonnenbildern eines Tiberio d’Assisi, eines Spagna, des Pinturicchio u. a. beobachten. Andererseits machen wir die Beobachtung, daß Raffael seit seinem ersten Aufenthalte in Florenz der Landschaft als Staffage seiner Madonnenbilder eine größere Bedeutung zumißt. In allen Raffaelischen Madonnenbildern, deren Entstehung man in die folgenden Jahre 1505, 1506 und 1507 setzen darf, wie z. B. in jener unter Nummer 147 der Berliner Galerie, der Jungfrau im Grünen der Belvederegalerie von Wien, in der Madonna del Cardellino der Tribuna in Florenz u. s. f., sehen wir die Jungfrau mit dem Christkinde und dem kleinen Johannes in heiterer offener Landschaft vor uns. Später umstellt Raffael die Madonna zuweilen auch mit Gliedern der h. Familie, wie Joseph, Elisabeth, Anna. Es ist dies eben der bedeutsame Wendepunkt in der italienischen Kunstgeschichte, wo die Kunst aus der Kirche tritt und


  1. Sowohl in der Madonna de’ Tempi als in der des Granduca ist der schwärmerische, sehnsuchtsvoll schmachtende Zug des Perugino verschwunden, die Carnation ist heller und mehr der des Timoteo ähnlich als der dunklern Färbung des Perugino. Freilich läßt Raffael was Naturwahrheit, geistreiche Auffassung und Tiefe der Empfindung anlangt, in dem einen wie in dem anderen Bilde, seine ehemaligen Lehrer weit hinter sich zurück.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/392&oldid=- (Version vom 31.7.2018)