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Friedrich von Bodenstedt: Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder

So eigenthümlich die kleinrussichen Lieder durch ihren Inhalt sind, so wenig unterscheiden sie sich, in Bezug auf ihre Form, von den lyrischen Erzeugnissen der westlichen Länder Europas. Anders ist es mit den Dumen, den größern Gedichten historischen Inhalts, worüber ich gehörigen Orts das Nähere gesagt habe.

In den meisten kleinrussischen Liedern ist eine seltsame, ergreifende Wehmuth vorherrschend. Die Mutter nimmt weinend Abschied von ihrem Sohne, die Braut von ihrem Geliebten, der in’s Feld zieht und von dem sie nicht weiß, ob er wiederkehrt; die verlassene Schwester jammert ob dem gefallenen Bruder, der früher ihr Schutz war, sie ernährte und tröstete, sie, die jetzt verwaist in der Fremde weint; der alte Kosack beklagt den Verlust seiner Jugendjahre, wo er schmuck angethan zur Schlacht zog und mit wilden Tartaren kämpfte und mit holden Mägdlein liebelte … Ueberall jedoch zeigt sich die Herrschaft des Weibes, wie sich überhaupt in der Geschichte der Ukraine gar viele Züge aus der Ritterwelt des Mittelalters wiederfinden.

Der Kleinrusse lebt in inniger Vertrautheit mit der Natur; ihr sind all die schönen Bilder, welche wir in seinen Liedern finden, entlehnt. Ist der Kosack in der Schlacht gefallen, so fliegen die Adler, seine Brüder, herbei und

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Friedrich von Bodenstedt: Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder. J. G. Cotta, Stuttgart u. Tübingen 1845, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_poetische_Ukraine_(1845).pdf/42&oldid=- (Version vom 11.4.2022)