Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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»Ach, das war die von Gott geschürte,
»Die Leidenschaft zur Glut entfacht.
»Ich hab’ geweint die halbe Nacht!«
Der Vater legt den Operngucker
Bedächtig lächelnd aus der Hand:
»Mein liebes Kind, ich bin kein Mucker,
»Behüt’, das man die Kunst verachtet;
»Doch ganz entkleidet des Gedichts,
»Der Romeo als Mensch betrachtet,
»Er ist doch nichts, er hat doch nichts!
»Hat nicht Geschäft noch Stand dabei;
»Und die Montecchi als Familie
»Sind auch nicht völlig einwandfrei …
»Wenn Shakespeare nicht in Versen schriebe,
»Es wär’ zum Lachen mit der Liebe,
»Der jede rechte Basis fehlt.
»Ein Schwiegersohn, der Mohrenhorden
»Entstammt, ist auch kein Wunderglück.
»Ist General der Republik.
»Gut, er ist schwarz, doch wohlgestaltet.
»Und schliesslich glaub’: tout comme chez nous;
»Wenn er nur Cypern klug verwaltet,
»Glaub’ deinem welterfahr’nen Vater:
»Es steckt nichts hinter dem Gestöhn.
»Die Romeo’s sind für’s Theater,
»Und auf der Bühne – Alles schön!
»Und keck ein hübsches Kind verführt;
»Man weint, wenn sie an Gift gestorben –
»Denn dafür ist man abonniert.
»Man nimmt als Abonnent und Leser
»Doch ein verbannter Veroneser
»Als Schwiegersohn in West-Berlin –?
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/167&oldid=- (Version vom 31.7.2018)