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Verschiedene: Die zehnte Muse

Sie schmeichelt ihm, und ob er dann

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Auch kalt beiseit’ sie schiebe,

Sie nennt ihn „ihren liebsten Mann“,
Und – alles ohne Liebe.


Theodor Fontane.




Zwei Frauen.

Ich sah auf der Strasse ein armes Weib,
Krankheit im Gesicht und Lumpen am Leib,
Ein Kind an der Hand, des Elends Bild. –
 „Du Arme, o bleib’

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Und sag’, was dir fehlt!“ so fragt’ ich sie mild.


Sie sah ins Gesicht mir, wild und bleich:
„Warum bin ich arm, und warum bist du reich?
Ei hätt’ ich wie du mein gutes Brot,
 Dann würden sogleich

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Die mageren Wangen rund und rot!


Ja, müsst’ ich nicht betteln, wie ich es tu’,
Und trüg’ ich seidene Kleider wie du,
Dann säh’ auch ich dem Elend hier
 Gelassen zu

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Und braucht’ nicht zu reden, du Reiche, mit dir!


Da der Bub’ ist geboren in Sünd’ und Schand’,
Seinen Vater, den hat er nie gekannt.
Nun wächst er in Schmach und Elend heran,
 Zieht mit mir durchs Land

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Und wird sein Lebtag kein ehrlicher Mann.


Ja, das Kind, das ist meine schwerste Not,
Es quält den ganzen Tag mich um Brot,
Und so schlepp’ ich die Last mit mir herum –
 O läg’ es nur tot,

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Dann wären die hungrigen Lippen doch stumm!


Umsonst hab’ ich ehrliche Arbeit gesucht,
Nur Spott und Hunger, das war die Frucht –
Der Tag, da die Mutter geboren mich,
 Der sei verflucht!

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Wer ist noch so arm und so elend wie ich!?“


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Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/274&oldid=- (Version vom 31.7.2018)