Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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– – Mir aber rannen die Tränen herab,
Weil ich ein eigenes Kind nicht hab’,
Einst hatt’ ich eins, doch lange ist’s her,
Jetzt liegt es im Grab …
Die Wasserleiche.
Am Landwehrkanal ein Menschenhaufen,
Aus weiter Grossstadt zusammengelaufen,
Und schrilles Geschrei – verworrene Rufe! –
Auf der nassen untersten Treppenstufe
Das Auge der müssigen Gaffer stiert
Mit dem teilnahmlosen, widrigen Blick
Der feilen Neugier an fremdem Geschick.
Da unten aber, dem Wasser entrissen,
Von dem stinkigen, dumpfen Gewässer durchnetzt
Von gierigen Fischen zerfressen, zerfetzt,
Das Antlitz gedunsen und grün und blass,
Die Haare durchzogen von Schlamm und Gras,
Ein Menschenkind, wie wir alle sind.
Wie einst sie gewesen,
Ich kann es nicht seh’n –
Mein Gott, im Verwesen
Ob Elend sie in den Tod getrieben,
Ob Schwäche der Seele, ob sündiges Lieben,
Was schert mich das; ich seh’, wie fest
Die Hand sie auf das Herz gepresst,
Die Nägel in das Fleisch gekrallt;
Da weiss ich genug! Solch Zeichen schreibt
Das Schicksal nur, das zum Tode treibt,
Wenn nach marternden, qualvollen Kampfesstunden
Ich seh’ erschüttert auf das Weib,
Auf den unförmig wassergedunsenen Leib
Und denke: „du Aermste, gepeitscht und gehetzt,
Dein ganzes Leben vom Glücke gemieden,
Den langersehnten Frieden – – Frieden.“ –
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/275&oldid=- (Version vom 31.7.2018)