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Verschiedene: Die zehnte Muse

Und unerträglich schwer schien ihr die Last,

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Die keuchend sie auf ihren Schultern wälzte. – –

Ein Gang nach Golgatha! Sie wollte heim.
Ihr Heim, das lag in der krystallnen Ferne,
Da reine Liebe thront in Glanz und Licht.
– – – – – – – – – – – – – – – –

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Das alte Lied: ein gurgelnder Kanal,

In dessen trägen angeschwollnen Wassern
Die Sonne spielt in letztem Abendgold –
Ein rascher Sprung, ein leiser Schrei, ein Fall –
Und weiter gleitet dann die braune Welle,

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Und weiter grollt von fern das Menschenmeer

Wie eine Bestie, die nach Opfern sucht! – –


Otto Kindt.




Verdorben – gestorben.

Zwei Tote liegen im Leichenhaus,
– Die Särge zahlt die Gemeinde, –
Ein junges Weib, ein hagerer Mann,
Der Bettler Franz, die Dirn’ Susann’;

5
Im Leben waren sie Feinde.


Sie wuchsen, Nachbarkinder, auf
Und gingen zusammen zur Schule
Und gingen zusammen zum Tisch des Herrn,
Und gingen zusammen zum Tanzplatz gern

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Und wurden Buhl und Buhle.


Die Alten starben; da haben die Zwei
Sich treulos bald verlassen.
Die Dirn war schön und heiss ihr Blut,
Der Bursch stolz, ohn’ Hab und Gut;

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Aus Lieben wurde Hassen.


Die Dirne flog von Arm zu Arm
Und ging in seidenen Fetzen;
Der Bursch im Trunk das Leid vergass,
Bis endlich Bettlerbrot er ass,

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Sich selber ein Entsetzen.


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Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/325&oldid=- (Version vom 31.7.2018)