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Einsamkeit erreicht werden. Die Ideale, die wir Christus verdanken, sind die Ideale des Menschen, der die Gesellschaft gänzlich verlässt oder des Menschen, der sich der Gesellschaft völlig widersetzt. Aber der Mensch ist gesellig von Natur. Selbst die Thebais ist schliesslich besiedelt worden. Und wenn schon der Klostermönch seine Persönlichkeit verwirklicht, oft ist es doch eine verarmte Persönlichkeit, die er so verwirklicht. Andrerseits übte die schreckliche Wahrheit, dass das Leiden eine Form ist, durch die der Mensch sich verwirklichen kann, eine zauberische, wundervolle Gewalt über die Welt aus. Seichte Redner und seichte Denker schwatzen auf Kanzeln und Tribünen oft von dem Kultus des Genusses in der Welt und jammern darüber. Aber es ist in der Geschichte der Welt selten, dass ihr Ideal eines der Freude und Schönheit gewesen ist. Der Kultus des Leidens hat weit öfter die Welt beherrscht. Das Mittelalter, mit seinen Heiligen und Märtyrern, seiner Liebe zur selbsteigenen Marter, seiner wilden Leidenschaft, sich selbst zu verwunden, mit

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)