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Seite:Dresdner Geschichtsblätter Dritter Band.pdf/126

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Hat sich doch auch in Dresden unter der Herrschaft des Aufklärungsgeistes die Bevölkerung thatsächlich zu seinem eignen tiefen Schaden vielfach der Kirche innerlich und äußerlich entfremdet.

Denn was die Vornehmen und Hofleute schon unter August dem Starken und seinem Nachfolger begonnen hatten, was die Gebildeten, dieser geistige Adel, durch sein Vorbild lehrte, das that nun auch das Volk je länger je mehr: es entwöhnte sich des früheren regelmäßigen Kirchenbesuches. Gottesdienste gab es freilich genug; wurden doch wöchentlich in der Stadt nicht weniger als 36 Predigtgottesdienste, 15 Katechismusexamina und 30 Betstunden gehalten; aber die Kirchen wurden immer leerer. Auch heute noch läßt sich ein Schluß auf den Kirchenbesuch aus der Summe der vereinnahmten Beckengelder ziehen. Wieviel mehr in jener Zeit, wo jeder Kirchenbesucher durch den ihm vorgehaltenen Klingelbeutel gemahnt wurde, seinen Obolus für den Almosenkasten zu spenden. Aber wie traurig ist da das Bild, das uns ein Blick in die Rechnungen gewährt. Vermindern sich doch die Beckengelder von 1750 bis 1850 bei den Frühgottesdiensten in der Kreuz- und Johanniskirche von 265 Thlr. auf 70 Thlr., in der Neustädter Kirche von 645 Thlr. auf 63 Thlr. und zwar nicht etwa sprunghaft, sondern ganz allmählich. Ebenso ergeben die Mittagspredigten in der Sophienkirche statt 228 Thlr. 1850 nur 89 Thlr., in der Neustädter 1750: 122 Thlr., 1850 gar nur 20 Thlr. Beckengelder, so daß also in dieser Kirche, zu der doch eine durchaus stetige Bevölkerung gehörte, die Einnahmen sich im Laufe eines Jahrhunderts um 9/10 vermindern. Auch bei den im Jahre 1794 neueingerichteten Mittagspredigten in der Kreuzkirche werden zuerst 277 Thlr., im Jahre 1850 aber nur noch 63 Thlr. vereinnahmt: wohl Beweise genug für den in den verschiedenen Dresdner Gotteshäusern gleichmäßig immer mehr zurückgehenden Kirchenbesuch.

Ebenso tritt uns der Rückgang des kirchlichen Lebens deutlich entgegen, wenn wir hören, daß die Kommunikantenzahl ganz Dresdens 1750 91893, 1850 aber nur noch 47952 beträgt, obgleich die Bevölkerung der Stadt, die sich 1755 auf 63209 belaufen hatte, bis 1849 auf 88181 Köpfe evangelischen Glaubens gestiegen war. Wenn aber in dem gleichen Zeitraum die Zahl der unehelich geborenen Kinder von 221 auf 951 steigt, so übertrifft wiederum diese Steigerung so ungemein jene des Bevölkerungszuwachses, daß sich zumal in Berücksichtigung des gleichzeitigen Rückgangs im Kirchen- und Abendmahlsbesuch ein innerer Zusammenhang zwischen der ganzen Geistesrichtung der Zeit und den sich so auffallend mehrenden Uebertretungen gegen das sechste Gebot nicht in Abrede stellen läßt Ein der Kirche sich entfremdendes Volk achtet naturgemäß auch die Gebote Gottes immer weniger; damals aber gab die Kirche selbst denen, die zu ihr hielten, zwar hohe Worte von Sittlichkeit, aber nur wenig von der göttlichen Lebenskraft, aus der Sittlichkeit allein hervorgeht.

Auch in anderer Beziehung fehlte der Zeit der rechte sittliche Ernst. Erklärt sich doch wesentlich hieraus der immer wiederholte Ansturm gegen die noch herrschende Privatbeichte, der schließlich auch dazu führte, daß 1812 trotz des entschiedenen Widerstrebens fast der gesammten Geistlichkeit die öffentliche Beichte eingeführt wurde. Ebenso spricht es nicht für ein zartes kirchliches Gefühl, daß man für den Neubau der im Siebenjährigen Kriege eingeäscherten Gotteshäuser nach einander nicht weniger als sechs Geldlotterien veranstaltete. Wenn aber die für die im Siebenjährigen Kriege abgebrannten Dresdner Kirchen gesammelte Kollekte 1763 trotz der kaum vergangenen Kriegsnöthe immer noch über 5563 Thlr. betrug, dagegen die 1778 gesammelte nur 640½ Thlr. ergab, so ist das zwar auch dafür ein Zeichen, daß man des sich in ewigen Streitigkeiten hinziehenden Baues herzlich überdrüssig war, aber doch zugleich ein Beweis für die Unlust, gerade für eine Kirche etwas zu opfern. Auch Zahl und Werth der bei der Weihe der Annenkirche gemachten Stiftungen ist geradezu kläglich, und das Kapitel der „Stiftungen“ in den Rechnungen der Dreikönigskirche zeigt in unserm Zeitraum oft Jahrzehnt um Jahrzehnt lang ein einfaches „Vakat“. In einer Bevölkerung, die die Kirche immer weniger besucht, weil sie von ihr immer weniger empfängt, schwindet eben naturgemäß auch die Liebesbethätigung dem Gotteshaus und kirchlichen Einrichtungen gegenüber. Da aber auch die Kirche selbst Liebe nur recht vereinzelt bethätigte, war es erklärlich, daß die ganze Zeit der rechten Barmherzigkeit im Allgemeinen ermangelte. So war das Dresdner Waisenhaus bis 1817 zugleich eine Zuchtanstalt, in der „Zöglinge“ und „Züchtlinge“ zugleich untergebracht waren, „sodaß das Zusammenleben und die gleiche Behandlung mit den sittlich verwahrlosten Altersgenossen auf die wirklichen und würdigen Waisen den verderblichsten Einfluß ausüben mußte“. Die Ursache der schließlichen Aufhebung dieser Zuchtanstalt aber lag nicht etwa in der Erkenntniß dieses Schadens, sondern rein äußerlich darin, daß die Arbeitserträgnisse den erforderlichen Aufwand nicht mehr deckten. Sehen wir hier, wie wenig man die Liebespflicht gegenüber den Waisen verstand, so erzählt uns die Armenordnung von 1773 von dem geringen Ertrag der für die Armen gesammelten Almosen. Und wenn der Rath sich lange gegen jeden Fortschritt der Armenversorgung sträubte, so entsprach dies im Grunde eben nur dem Verhalten der Bürgerschaft, die zu den für die Armen veranstalteten Sammlungen immer kärglicher beitrug. Erst nach den Septemberereignissen 1830 ist es schließlich gelungen, die Dresdner Armenversorgung sachentsprechend zu regeln.

Empfohlene Zitierweise:
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 3 (1901 bis 1904). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1901 bis 1904, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Dritter_Band.pdf/126&oldid=- (Version vom 23.10.2024)