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II. Jahrgang          1893          Nr. 1.


Von diesen Blättern erscheinen jährlich 4 Nummern im Umfange von 1 bis 2 Bogen. Bestellpreis für den Jahrgang 3 Mark. Die Vereinsmitglieder erhalten die Blätter unentgeltlich zugesandt.


Das geistige Leben Dresdens
am Ausgange des 18. Jahrhunderts.
von
Gymnasialoberlehrer Dr. Theodor Urbach.

Das geistige Leben Dresdens am Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist ein neu werdendes; das Interesse, das es hervorruft, besteht in der Beobachtung des Kampfes, den zwei unversöhnliche Zeitanschauungen mit einander aufgenommen haben. Die ältere wird verkörpert durch August den Starken und seinen Sohn, die neue durch Paris, Weimar, Wien und Königsberg.

Die Zeiten freilich, in denen Dresden der Mittelpunkt Deutschlands war, die Zeiten der beiden glänzenden Polenkönige, sind damals längst vorüber, aber die reichen Kunstsammlungen, die redenden Zeugen der verschwundenen Herrlichkeit, stehen Jedem zum Lernen und Anschauen offen; die Bähr und Chiaveri sind gestorben, aber ihre Bauten, die Frauenkirche und die katholische Hofkirche, erregen noch immer Bewunderung; Hasse, der Kapellmeister, liegt schon zwei Jahrzehnte in der Santa Marcuola in Venedig begraben, aber er lebt in seinen Schöpfungen hier weiter, in seinen Liedern, die Friedrich den Großen einst so entzückten, daß er darum bat, sie ihm mit den Wehen des Zephyrs zu senden. Setzt das Alles nicht ein bestimmtes geistiges Leben in Dresden am Ende der neunziger Jahre voraus? Erwartet man nicht mit Recht, daß Winckelmanns Worte, der Dresden um seiner Kunst willen mit Athen vergleicht, daß das Wort Herders:

Blühe, deutsches Florenz, mit Deinem Schatze der Kunstwelt!
Stille gesichert sei, Dresden-Olympia, Dir,

noch eine gewisse Berechtigung habe in den Tagen jener neunziger Jahre? Und wenn das der Fall ist, wenn die Bewohner dieser Stadt noch gefangen gehalten sind in dem alten, theilweise durch Despotenlaune geschaffenen Geistesleben, wie stellen sie sich zu den gewaltigen, aus der Urkraft des Volkes hervorquellenden neuen Geistesströmungen, die Staat und Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft auf ganz anderen Untergrund sehen sollten? Lauschen die Dresdner schon mit Verständniß dem Liede, das machtvoll von der Seine, der Ilm und der Donau herüberklingt?

Folgen wir zunächst einem jener zahlreichen Fremden, der sich Dresden – es ist ohngefähr 1799 – auf der Meißner Landstraße nähert. Die gut unterhaltene Landstraße, die Lage der Stadt, die Thürme, die Brücke mit dem Kruzifix, Alles wirkt günstig auf den Fremden. Er kommt in die Vorstadt. Die Häuser sind stillos, schwarz – denn in den Vorstädten brennt man bereits Steinkohlen – aber steinern. Die alten Holzhäuser hatten die Kugeln des Preußenkönigs vor 40 Jahren zusammengeschossen. Der große Thorbogen der Festung nimmt den fremden auf und hier wird ihm der Bescheid, den Mund zu halten, wenn über politische Dinge geredet werden sollte. Das will dem in Leipzig und Berlin an andere Lebensäußerungen gewöhnten Fremden doch zu engbrüstig erscheinen, und seine Vorstellung von den Bewohnern der Stadt ähnelt im Augenblicke dem, was Seume, der Spaziergänger, einige Jahre später schreibt: „Man trifft hier so viele trübselige, unglückliche


Empfohlene Zitierweise:
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1892–1896, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Erster_Band.pdf/59&oldid=- (Version vom 9.4.2024)