entmenschte Gesichter, daß man alle fünf Minuten auf eines stößt, das öffentliche Züchtigung verdient zu haben oder sie aber zu geben bereit erscheint.“
Wer trägt nun unter den 50-60 000 Einwohnern, die Dresden damals hat, die „entmenschten“ Gesichter? Es fehlt freilich noch das unaufhörliche Treiben unruhiger Massen mit dem Anstrich von Kultur und größerer Empfänglichkeit; es sind auch nicht mehr die glänzenden Kavaliere vorhanden, die einst am Hofe der beiden Auguste einen weiten Tummelplatz für politische Abmachungen und für Entfaltung unerhörten Luxus fanden. Aber das Volk, das hier lebt, ist nach dem übereinstimmenden Urtheile der Besucher freundlich, harmlos, einnehmend und vergnügt sich für weniges Geld am Tanze, am Theaterspiel, im Verkehr des Bierhauses.
Obwohl auf flüchtige Beobachtung sein Urtheil gründend, erkannte Seume, der ganz voll war von den Ideen der neuen Zeit, daß alte Gebräuche, veraltete Anschauungen hier vorherrschend waren, und wendete sich deshalb empört ab. Die ausschließliche Lust an geselligen Vergnügungen paßte ihm nicht zur ernsten Arbeit, die Deutschland an anderen Orten an sich vollzog. Die Grundlage für alles Große war nach seiner Meinung hier nicht vorhanden: die Begeisterung, darum spricht er von entmenschten Gesichtern.
Und doch fehlte die Begeisterung für das Neue und Größere nicht so ganz und gar, der Sinn dafür fing wenigstens an, sich zu erschließen. Schüchtern regt sich zunächst der politische Sinn der Bevölkerung. Die große französische Revolution, so weittragend und so viele ungelöste Probleme noch hinterlassend, hat bis zum Jahre 1799 nur wenig zur politischen Bildung Dresdens beigetragen. Die Leute hier bedächtig im Handeln, geduldig im Ertragen, kindlich treu unter der landesväterlichen Waltung lebend, kennen nicht parlamentarische Rechte noch Linke, sind entfernt von jeder politischen Geheimbündelei, lassen sich weder durch den Bauernaufstand des Jahres 1790 in der Lommatzscher Gegend zur Theilnahme hinreißen, noch macht der der Guillotine aus den Wege gegangene Graf Artois, der 1791 bei den Besprechungen der deutschen Monarchen in Pillnitz ist, als politische Persönlichkeit irgend welchen Eindruck. Kurfürst Friedrich August, hochgeachtet im Lande durch seine Fürsorge für dasselbe und um seiner mustergültigen Sittenreinheit willen, findet sich selbstverständlich nicht bewogen, die Meinungen seiner Unterthanen im freiheitlichen Sinne bearbeiten zu lassen. Eine öffentliche Meinung aber in unserem Sinne fehlt, weil die politische Tagespresse mit Parteifärbung fehlt; die Bewohnerschaft ist es höchstens gewöhnt, einer persönlichen Führerschaft zu folgen. Die Lust nun, eine solche Führerschaft auch im politischen Sinne zu übernehmen, wird genährt durch eine verhältnißmäßige Preßfreiheit und durch ungewöhnliche Sucht, politische Schriften zu lesen.
Gegen diese erste Regung, die auf eine neue Zeit hindeutet, erhoben sich zum Kampfe die Anschauungen früherer Jahrzehnte. Das Gute und Böse einer freien Presse noch klug abwägend, ließ Körner, der Vater des Dichters, sein Buch erscheinen: Die Maßregeln gegen den Mißbrauch der Preßfreiheit – ein Beweis, wie brennend die Frage auch hier geworden war. Anders die Regierungsbehörden. Sonst, z. B. unter dem Grafen Brühl, hatte man gegen das lästige „Räsonniren und Kritisiren“ behördlicher Einrichtungen sogenannte Räsonnirpatente erlassen, um denen, die sich des unzulässigen Räsonnirens zumal „von denen in statum publicum lautenden Sachen“ schuldig machten, den Mund zu stopfen, d. h. sie selbst hinterzustecken. Jetzt wurden „Polizeirescripte“ erlassen, „Confiskationen“ bestimmt und Censoren eingesetzt. Aber wie schwer waren die Kanäle zu schließen, die der Lesesucht neues Wasser und nicht immer reinliches zuführten! Buchhändler, die Bibliotheken vornehmer Privatleute, Leihbibliotheken und zwar in Masse, Lesezirkel, Zeitungen boten Lesestoff dar. Besonders gegen Leihbibliotheken und Zeitungen richtete sich der Kampf. 1792 erließ Herr von Burgsdorf an den Rath von Dresden ein Schreiben des Inhaltes: „ob es nun zwar, soviel die Leihbibliotheken betrifft, einer besonderen Concession nicht bedarf – was wenig später aufgehoben wird – so begehren wir jedoch hiermit, da eine Polizeiaufsicht erforderlich ist, Uns wollet Ihr, was bei den Lesebibliotheken etwa künftig für ein Versuch zu beachten sei, gutachtlich berichten.“ Alsbald gehen die Quängeleien los. Die Besitzer solcher Bibliotheken werden fortwährend aufs Rathhaus bestellt, müssen Bürger werden, ihre Bücherverzeichnisse vorlegen, ihre Kenntnisse ausweisen und sich überhaupt als „qualificirbare Subjecte“ zeigen. Wehe ihnen, wenn sie etwa eines der verbotenen und durch ihre Titel hinreichend gekennzeichneten Bücher ausleihen, wie Mirabeaus Briefe; La vie privée de Marie Antoinette; die bekannte Wochenschrift: Der Patriot, in die Forster schrieb; Kritische Geschichte des Adels; Guter Rath an die Völker Europas, bei der Nothwendigkeit, die Regierungsgrundsätze überall zu verändern u. A. Es waren das übrigens ähnliche litterarische Erscheinungen, wie sie auch die französische Revolution vorbereiteten. – Bei Zeitungen trat der Censor in sein Recht, und wenn die Bedeutung erwogen wird, die im Jahre 1795 bereits das Dresdner Wochenblatt der Tagespresse mit Worten zuschreibt: Zeitschriften sind in Rücksicht auf Menge und Lesbarkeit allen anderen Schriften bei weitem überlegen, so ist die Einsetzung der Censoren
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1892–1896, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Erster_Band.pdf/60&oldid=- (Version vom 16.5.2024)