Führer der Nation geworden, aber bereits erheben auch gegnerische, tiefer stehende Geister ihr Haupt. Wofür entscheiden sich die Dresdner und welcher Einfluß wird von oben her in dieser oder jener Richtung ausgeübt? Das litterarische Leben Dresdens bietet dasselbe Bild wie das übrige geistige Leben, es ist auch ein erst werdendes. Das ist um so betrübender, je verständlicher die Sprache eines großen Dichters in ihrer elementaren Kraft doch Jedem ist und je leichter die Gelegenheit, sie zu hören und auf sich wirken zu lassen, Jedem geboten wird.
Ganz zu schweigen ist selbstverständlich von den dichterischen Eintagsfliegen, den weinerlichen Ergüssen zum Neujahr, den lüsternen Betrachtungen der Vogelwiese oder Versen etwa der Art, wie sie die damalige Dresdner Zeitung über „Roland“ bringt:
Vor alten Zeiten gab’s einmal
Einen Ritter sondersgleichen,
Bekannt, verrufen überall
Durch Wunder und durch Zeichen,
Denn in dem ganzen Schöpfungsraum
Gab es wohl seines Gleichen kaum u. s. w.
Solche Dichtung wird auch heute, auch nach dem Tode des letzten vielverspotteten und doch unentbehrlichen Stadtoriginals, des Volkshelden der Vogelwiese, Liebhaber in manchen Schichten finden, aber diese sind nicht maßgebend für die Beurtheilung des Geschmackes der Bevölkerung.
Man begegnet oft in den Schriften jener Tage der Klage über den in Dresden verfallenden Geschmack, und diese Klage berührt sich eng mit dem harten Urtheil hochgebildeter, ja maßgebender Personen über Dresden. Versuchen wir die Sache zu ergründen!
Ohne Zweifel wird viel gelesen, wie politische so auch Unterhaltungsschriften. In einem der offenbar von Gebildeten unterhaltenen Lesezirkel finden wir verzeichnet: Vaillant, Reise in das Innere von Afrika; Jardier, Reise nach Marokko; Forster, Ansichten vom Niederrhein; Neue Quartalschrift aus den neusten und besten Reisebeschreibungen; Thümmel, Reisen; Archenholz, Annalen der brittischen Geschichte; Minerva; Wielands Merkur; Schillers Thalia; Dr. Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt u. A. Die Auswahl dieser Schriften spricht entschieden gegen die oben erwähnten Vorwürfe. Bedenklicher sieht es mit der litterarischen Nahrung derer aus, die damals aus Leihbibliotheken lasen, und das waren gewiß nicht bloß Dienstmädchen. Heute verschollene stümperhafte Nachahmungen Werthers, Mondschein- und Klosterabenteuer, Ritterromane und Geistergeschichten mit Humpen, Sauen und Rüden als Scenerie scheinen den Vorzug gehabt zu haben, soweit man nach den Bücherverzeichnissen urtheilen kann. Da nun Leihbibliothekare durch ihren Beruf nicht verpflichtet sind, den Geschmack zu bilden, sondern sich nach dem Geschmacke des Publikums zu richten, so ist der Schluß gestattet, daß das Phantastische und nicht das Künstlerische, das Aufregende, leider auch Läppische und nicht das Ernste damals bevorzugt worden ist. Ist das in Verbindung zu bringen mit der Anlage der Bevölkerung oder mit der mangelnden Führung eines ernsten Mannes? Wahrscheinlich mit Beiden, wenigstens gewisse Dinge sprechen für Beides. Mit der Neigung und Anlage der Bevölkerung hängt z. B. die einige Jahrzehnte später in Dresden sich bemerkbar machende Theilnahme für die Romantik gewissermaßen gegen Goethe, Lessing und Shakespeare zusammen. Mit dem Verständniß und dem Entgegenkommen seitens der Bevölkerung muß man auch die Bedeutung in Zusammenhang bringen, die damals, 1799, Männer von gewissem Schlage gewannen, die zwar mit den großen Führern der Nation in Verbindung standen, aber selbst nicht Führer waren. Es sind das Meißner, Großvater von Adolf Meißner, der mit Schiller ein Journal herausgeben sollte, Teubern, Herausgeber der Blätter für Freunde des Vaterlandes, Langbein, der für das Schillersche Almanach arbeitete. Meißners Fabeln, Skizzen und Dialoge mit ihrem „blumigen“ Stile, Langbeins Schwänke und Gedichte, bald urgemüthlich und seelenvoll, bald etwas stark gepfeffert, erinnern an Alles, nur nicht an Goethe und Schiller.
Halb auf Kosten der Anlage der Bevölkerung, halb auf die mangelnde geistige Anregung kommt ein Anderes. Es fehlten hier die Kaffeehäuser, anderwärts die Tummelplätze der litterarisch angeregten Geister, und die „artistischen Clubs“, die Schöpfer der litterarischen öffentlichen Meinung. Aus diesem Mangel einer solchen Meinung ergab sich eine Schlaffheit, ein Gehenlassen, das sich besonders verhängnißvoll zeigte auf dem Gebiete theatralischer Aufführungen. Schon Gottsched hatte erkannt, daß das Theater das beste Mittelglied zwischen Volk und Litteratur war. Die Rolle, die es in Weimar und anderwärts als bester Erzieher des Volkes spielte, ist bekannt. Hatte nun auch der Kurfürst – und hier tritt der oben erwähnte zweite Faktor, der Mangel eines Führers, in Kraft – kein eignes Theater für solche Aufführungen, so war es sein Recht und seine Pflicht, das anderwärts Bewunderte und heilsam Wirkende im Interesse seines Volkes zu unterstützen. Das that er nicht. Denn was förderte es, daß er – ganz wie für Mozartsche Clavierkompositionen – so sich zwar begeistert für die „Jungfrau von Orleans“ ausspricht, aber das heitere, ruhige, vielleicht auch oberflächliche bürgerliche Schauspiel oder Intriguenstück mit Vorliebe sich ansieht? Das beherrschte nun den Theaterzettel der Bondini-Secondaschen Gesellschaft, daran wurde der Dresdner gewöhnt, der
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1892–1896, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Erster_Band.pdf/66&oldid=- (Version vom 16.5.2024)