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achtmal größer sind als unser Deutsches Reich und daß dieses gigantische Mosaikbild Indien sich aus noch viel bunteren, ungleicheren Steinarten zusammenfügt als die deutschen Länder, ist selbst Gebildeten nicht immer bewußt.

Den stolzen, im Jahre 1890 für noch recht unnahbar verschrieenen Hochgebirgswildnissen des inneren Himalaja galt mein erster Ansturm; mit nicht unbeträchtlichem Aufwand an Ausdauer und Kosten führte ich ihn, wie mein Buch „Indische Gletscherfahrten“ eingehend zeigt, zu dem von mir gewünschten Ziele. Daß das maßgebende englische Fachblatt Luzac’s Oriental List (No. 7 und 8, 1900) dieses Werk mit den Worten anerkannte: „We can heartily commend the „Indische Gletscherfahrten“ of Dr. Kurt Boeck. Let us hope that it may soon be translated into English!“ hebe ich unbescheidenerweise nur deshalb hervor, weil es als ein Anzeichen dafür gelten kann, daß gebildete Engländer es zu schätzen beginnen, wenn ein Reisender es wagt, indische Zustände nicht ausschließlich durch die rosafärbenden Augengläser englischer Gastgeber anzuschauen und zu schildern. Daß einem Manne von Welt nichts ferner liegen kann, als Rassenhaß und Klassenhaß und „derlei Teufelswerke“, wie sie Scheffel nennt, brauche ich wohl nicht zu betonen; auch das vorliegende Werk ist in diesem Sinne ohne jede nationale Parteilichkeit oder Gehässigkeit mit unbekümmerter Offenheit geschrieben.

Bei meinen indischen Alpenreisen war aber das Studium des Volkslebens der Hindus in Stadt und Land zu kurz gekommen, und schon bald darauf, im Jahre 1893, suchte ich diese Lücke auszufüllen und die Stromgebiete des Ganges und Indus gründlich kennen zu lernen.

Jm Jahre 1895 zog ich abermals aus, um die Religions- und Lebensgewohnheiten der Bewohner des südlichen Indiens nicht, wie bei meinem ersten Besuche, nur wie einen buntschillernden, unverständlichen Traum auf mich wirken zu lassen; auch gab ich mich, wie auf meinen früheren Indienreisen, der stillen Hoffnung hin, daß es mir gelingen würde, Zutritt in das einzige von den Engländern tatsächlich noch unabhängige und wirklich selbständige Königreich Indiens, das für unsagbar malerisch und interessant geltende Nepal, zu erlangen. Doch auch diesmal durfte ich diese lockendste Frucht am indischen Länderbaum nur aus der Ferne anschmachten; das Sesamwort, das die verriegelten schweren Tore Nepals aufzusperren vermocht hätte, blieb mir ein unlösbares Rätsel.

Eingedenk des goldensten unter den Ratschlägen König Johanns von Sachsen an seine Söhne: „Was Du angefangen hast, das führe zu Ende und wenn es Dir noch so viel Anstrengung kostet“, setzte ich meine Bemühungen, Nepal betreten zu dürfen, unverdrossen fort und erhielt, durch einflußreiche Vermittelungen und günstige Zufälle unterstützt, im Jahre 1898 die langersehnte Erlaubnis, dies bei uns kaum dem Namen nach gekannte Wunderland zu betreten. Das verschlossenste Land Asiens stand mir offen, das höchste meiner Reiseziele rückte in erreichbare Nähe!

Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite VI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/12&oldid=- (Version vom 1.7.2018)