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Hinterbliebenen die nicht völlig verbrannten Gebeine, begießen sie mit Milch und geschmolzener Butter und versenken sie schließlich in einem Tonkrug in den Ganges. Häufig schickt man den Krug auch zu diesem Zwecke mit einer Gesellschaft von Wallfahrern nach Hardwar[WS 1] oder noch höher in das Himalajagebirge hinauf zu einem Tempelplatz in der Nähe der Quellen des heiligen Stromes, der dort oben aus dem wilden Haargelock des auf den Berggipfeln thronenden Gottes Schiwa entspringen soll, wo dieser sich in seiner eisstarrenden Hochgebirgsheimat mitleidsvoll des auf der glühend heißen, ausgedörrten indischen Ebene schmachtenden Hinduvolkes erinnert; die Verehrer Wischnus dagegen glauben, daß die Quellen des Stromes unter den Fußtritten ihres im Vikunthaparadiese[WS 2] wandelnden Gottes hervorrieseln, der Ganges also unmittelbar vom Himmel herabkommt. —

Wir rudern ans Land; unser Wagen rasselt durch die engen Bazargassen. Wohl bergen die winzigen Läden oder, richtiger, die darin aufgespeicherten Truhen die fesselndste Augenweide. Kinkobs, lockere Brokatstoffe[WS 3], die zur Kleidung für Elfen geschaffen zu sein scheinen und schon seit dem Altertume berühmt sind, Stickereien, wie sie das Hochzeitsgewand einer Feenkönigin nicht reizender zieren können und andere kaum zu schätzende Kostbarkeiten vermögen die besseren Händler auf unsere Bitten aus unscheinbaren Kisten hervorzuzaubern, falls sie uns so hoher Gunst überhaupt für würdig erachten. Minderwertige Ware wird uns dagegen überall aufdringlich angepriesen, doch ist dies meist nur aus Europa eingeführter Messingkram, der sich mit den besseren Benaresbronzen und ihrem überaus kunstvoll und sauber ausgestichelten Figurenschmuck gar nicht vergleichen läßt.

Gelegentlich befinden sich auch wohl hervorragende Meister in der Herstellung derartiger seit den ältesten Zeiten als Spezialerzeugnisse der Stadt Benares bekannten Bronzegeräte unter den Sträflingen der beiden riesigen Zuchthäuser, die den aus ganz Indien in Benares zusammenströmenden Hindus Achtung vor den englischen Gesetzen beibringen sollen und die „Central-Jail“ und „Distrikt-Jail“ heißen.

Die langen Hallen dieser Gefängnisse stehen in kreisrunden Höfen, die von radialen Mauern durchzogen sind und durch deren militärisch besetzte Tore der Verkehr zwischen den Gefangenen bei etwaigen Meutereien sofort gesperrt werden kann. Nur die Oberleitung liegt in den Händen weniger Europäer, die eigentliche Aufsicht ist Sträflingen von besonders guter Führung übertragen.

An der Töpferscheibe oder am Kochherd, am Färbetrog oder am Schmiedefeuer arbeiten die nach ihrer Kaste oder richtiger „Dschati“ gesonderten Gefangenen. In der längsten Halle hocken die Teppichwirker, die nach uralter Weise ihre Decken und Läufer weben, natürlich, wie es alle Handarbeiter in Indien tun, unter gewandter Zuhilfenahme der Füße. Mit den großen Zehen wird der Schußfaden hin und her gezogen, während die Hände das Pocheisen[WS 4] regieren. Die Muster sind jedoch nie vorgezeichnet, sondern Farben und Zahl der Maschen und Kanten werden von einem Vorleser laut ausgerufen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Hardwar: vergleiche Haridwar
  2. WS: Vikuntha: vergleiche Vaikuntha
  3. WS: Kinkob: Seidenbrokat, im Englischen Kincob, Kinkhwab oder Kimkhab genannt. Vergleiche Silk in the Indian subcontinent, Silk brocades (en)
  4. WS: Schußfaden, Pocheisen: vergleiche Schussfaden, vermutlich gemeint: Schützen/Schiffchen
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/241&oldid=- (Version vom 12.7.2018)