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allein ab. Ich verstand den zarten Wink: daß er erst die Leistungsfähigkeit seiner Schülerin kennenlernen müsse. Diese Vorsicht erweckte mein Vertrauen und war mir sympathisch. Es begann nun ein ganz anderes Leben. Ich hatte jeden Tag eine Stunde Latein und eine Stunde Mathematikunterricht und bekam dafür soviel Aufgaben, daß ich den ganzen Tag zu tun hatte. In diesen Fächern hatte ich das Pensum von drei Jahren der realgymnasialen Studienanstalt nachzuholen. Diese Klassen hatten aber schon mehr zu bewältigen als die entsprechenden Knabenklassen, da der Lehrstoff auf eine kürzere Zeit verteilt war. In Latein war es die ganze Grammatik, dazu die ersten Schriftsteller Caesar und Ovid. In den andern Fächern langten meine Vorkenntnisse von der Höheren Mädchenschule, ich mußte sie nur ein wenig auffrischen. Das sollte ich ohne Hilfe tun; ich verschob es auf die letzte Zeit vor der Aufnahmeprüfung. Ich wollte das Unternehmen, das mir doch sehr gewagt erschien, vor der weiteren Familie geheimhalten. Ich liebte es überhaupt nicht, daß viel über mich gesprochen wurde. In diesem Fall hatte ich noch das Gefühl, daß vorzeitiges Schwätzen den Erfolg gefährden könnte. Meine Mutter dachte ebenso. Bis zum Dezember schwiegen auch die Geschwister sehr brav. Dann ärgerte sich meine Schwester Frieda, weil ich an ihrem Geburtstag meine Stunden nicht ausfallen lassen wollte und verriet mich an einen Onkel, der ihr gratulieren kam und meinen Mathematiklehrer im Vorzimmer traf. Das war leider nicht mehr mein Vetter Richard. Ich hatte nur wenige Stunden bei ihm gehabt; in diesen Stunden hatte ich ihn erst richtig schätzen gelernt. Dann ging er auf den Rat seiner Freunde nach Göttingen, weil dies für seine spätere Laufbahn von entscheidender Bedeutung war. Es mußte für Ersatz gesorgt werden. Dr. Marek konnte uns seinen Bekannten empfehlen.

Herr Dr. Großmann war ein bejahrter Student, schon über 30 Jahre alt; er hatte sein Studium spät begonnen, vorher in einem praktischen Beruf gestanden. Er war sofort sehr zuversichtlich und machte mir von vornherein keinen sehr zuverlässigen Eindruck. Später fiel er mir durch seine schlechten Angewohnheiten so auf die Nerven, daß jede Stunde eine kleine Tortur war. Er lief während des Unterrichts im Zimmer umher und riß an seinen Nägeln. Außerdem liebte er kleine Scherze, die ich abgeschmackt fand – z.B. verwandelte er die Figur, die er zum pythagoräischen Lehrsatz gezeichnet hatte, in ein Männchen und sagte, das sei der alte Pythagoras –, und versuchte öfters Privatunterhaltungen anzuknüpfen. Das glückte ihm freilich nicht: ich erklärte kurzerhand, wir hätten keine Zeit zu plaudern; wir könnten sonst das Pensum nicht bewältigen. Er erwiderte etwas gekränkt, was ich denn wolle; wenn ich nicht so ungewöhnlich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)