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mußte wegen Schwierigkeiten im Latein die Obersekunda wiederholen, so daß wir nach einem Jahr voneinander getrennt wurden. Solange die Schule noch am Ritterplatz war, hatten wir den Schulweg gemeinsam und gingen jeden Mittag zusammen nach Hause. Wenn ich einmal die Schule versäumen mußte, holte ich mir bei ihr die Aufgaben. Es war ein ruhiges, verständiges und gleichmäßig-freundliches Mädchen, und ich mochte sie gern. Über religiöse Dinge haben wir nie gesprochen. Nach meinem Abitur verloren wir uns zunächst aus den Augen. Später hörten wir durch eine gemeinsame Bekannte voneinander; so erfuhr ich auch, daß sie – ziemlich spät – als Benediktinerin in St. Gabriel (Steiermark) eingetreten war. Von da aus hat sie im letzten Jahr brieflich die Beziehung wieder angeknüpft.

Die erste Stunde in meiner neuen Schulperiode war lateinische Lektüre bei Professor Olbrich. Er war ein gründlich gebildeter, kenntnisreicher Lehrer, und wir schätzten seinen Unterricht sehr. Aber die meisten Mädchen fürchteten ihn, denn er stellte hohe Anforderungen und hatte eine schroffe, verletzende Art zu tadeln. Es fiel uns auch auf, daß er uns nie richtig ansah und daß es ihm offenbar unbehaglich war, wenn wir uns einmal nach der Stunde wie bei andern Lehrern um den Katheder drängten, um noch etwas mit ihm zu besprechen oder etwas anzusehen, was er uns zum Zeigen mitgebracht hatte. Darum nannten wir ihn einen Misogyn und hatten den Eindruck, daß er sich eigentlich zu gut für eine Mädchenschule vorkam.

Die Klasse übernahm er neu; er unterrichtete nur auf der Oberstufe. Er hatte mich auch nicht geprüft und mochte dem Urteil seines Kollegen wohl nicht ganz trauen. Jedenfalls nahm er mich gleich als Erste dran, um einige Verse zu lesen. Es war der Anfang von Ovids Autobiographie: „Ille ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum ...“ Die Stelle war mir schon bekannt, das Versmaß vertraut; so las ich ein längeres Stück mit scharf betontem Rhythmus glatt herunter. „Sie können lesen“, sagte der Gestrenge.

Anfangs wußte ich nicht Bescheid, ob in puncto Vorsagen und Abschreiben im Gymnasium dieselben Bräuche herrschten wie in der Mädchenschule. Bei der ersten Klassenarbeit klärte mich ein freundlicher Rippenstoß meiner Nachbarin Julia darüber auf. Seitdem wußte ich, was ich zu tun hatte, und legte meine Hefte immer so, daß die Nachbarin bequem hineinblicken konnte.

Im Herbst bekamen wir die ersten Zensuren. Offiziell waren die Klassenplätze abgeschafft, aber Professor Olbrich, unser Klassenlehrer, gab uns die Zeugnishefte genau der Rangordnung nach. Das meine lag zu oberst. Ehe er es mir überreichte, hielt er mir vor der ganzen Klasse eine kleine Ansprache: ich sei, offenbar infolge

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/116&oldid=- (Version vom 31.7.2018)