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an. Als ich später den gregorianischen Choral kennenlernte, fühlte ich mich erst recht heimisch, und von hier aus verstand ich dann, was mich an Bach so bewegt hatte.

Als das Abitur herannahte, wurde es für alle Zeit, ernstlich an die Berufswahl zu denken. Wir mußten sogar in der Schule zu statistischen Zwecken unsere Studienfächer angeben. Ich hatte kaum noch etwas zu überlegen. Die Frage war zum ersten Mal an mich herangetreten, ehe ich noch ins Gymnasium aufgenommen war. Als es schon in der weiteren Familie bekannt war, daß ich mich vorbereitete, erkundigte sich mein Vetter Franz einmal in einem größeren Kreis, was ich denn studieren wolle. Ich ließ ihn raten. Er riet alle Fakultäten durch. Schließlich sagte er: „Ich weiß - Literaturgeschichte“. Ich nickte: „Literatur und Philosophie“. Das Gesicht meiner Schwester Frieda war bei diesem Gespräch lang und länger geworden. Ich schien ja ans praktische Leben überhaupt nicht zu denken! Ich las ihr das Entsetzen vom Gesicht ab und lächelte im stillen darüber. In der Tat lag mir jede Sorge um das tägliche Brot fern. Aber ich begriff wohl, daß ich auf meine Angehörigen Rücksicht nehmen mußte. Ich überlegte mir, daß die Sachgebiete, die mich interessierten, im Lehrberuf zu verwenden wären. Und wenn mich nun jemand nach meinen Studienplänen fragte, so nannte ich die Fächer, in denen ich Staatsexamen machen wollte: Deutsch, Geschichte und Latein. Die Philosophie behielt ich auf meinem Programm, sprach aber nicht mehr darüber, weil ich noch nicht wußte, daß sie als Prüfungsfach in Betracht käme.

Einmal besuchte uns mein Vetter Richard Courant von Göttingen aus. Man hatte ihm wohl schon von meinen unpraktischen Ideen gesprochen. Auch ihm hatten einst unsere Onkels von seiner Mathematik abgeraten und ihm angeboten, sein Studium zu bezahlen, wenn er Mediziner oder Jurist werden wolle; für eine brotlose Kunst aber wollten sie nichts geben. „Wie kommst du eigentlich darauf, Philosophie zu studieren?“ fragte er mich. „Ei, wie bist du denn darauf gekommen, Mathematik zu studieren?“, gab ich lächelnd zurück. Er verstand wohl, was ich meinte, gab sich aber noch nicht zufrieden. „Hast du dich denn schon damit beschäftigt?“ „Nein, noch nicht eigentlich. Aber ich will es. Ich habe wohl mal etwas Haeckel gelesen. Aber das verdient ja nicht den Namen Philosophie“. Vielleicht erweckte dieses Urteil sein Vertrauen zu meinen philosophischen Fähigkeiten. Er fragte nicht weiter.

Meine Berufswahl wurde von niemanden durchkreuzt. Meine Mutter hielt ihre schützende Hand darüber. Sie sagte wohl gelegentlich, ihr würde Jura gut für mich gefallen. Das konnte ich damit zurückweisen, daß damals Frauen noch nicht zu den juristischen

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/125&oldid=- (Version vom 31.7.2018)