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auf den späteren Lehrberuf geschah. Es gab wohl theoretische Vorlesungen über Pädagogik und man mußte im Staatsexamen einige Kenntnisse daraus nachweisen. Aber in lebendiger Verbindung mit den großen Erziehungsfragen und mit der Schulpraxis kam man dadurch nicht. Es war der Mangel, der später zur Reform der Lehrerbildung und zur Begründung der Pädagogischen Akademien führte. So hatten diese jungen Menschen zur Selbsthilfe gegriffen.

Stern stellte in seiner gütigen Weise das psychologische Seminar als Versammlungslokal zur Verfügung. Es war damals im II. Stock des ehemaligen Konviktgebäudes Schmiedebrücke 35 untergebracht. (Wir erlebten es noch, daß es mit dem Philosophischen Seminar zusammen in die schöneren und würdigeren Räume des I. Stocks verlegt wurde, und durften mit dorthin übersiedeln.) Dort kamen wir jede Woche einmal abends von 8-10 zusammen. Um 10 wurde das Haus geschlossen. Wenn die Diskussion dann noch nicht zu Ende war, ging man noch in ein Café, im Sommer auch manchmal in den Scheitinger Park (einen schönen, alten, englischen Park im Osten der Stadt), um die Nachtigallen schlagen zu hören. An diesen Abenden gab es Vorträge und Aussprachen über pädagogische Fragen. Am liebsten hatten wir Rektoren oder Lehrer der verschiedenen Schulgattungen, die uns aus ihren Erfahrungen berichten konnten. Öfters kamen auch Dozenten der Universität; Stern durften wir jedes Semester einmal zu uns bitten. Wenn niemand anders zu haben war, referierte jemand von uns über ein Buch oder eine Frage, die ihn gerade beschäftigte. Fr. W. Förster, Kerschensteiner, Gaudig, Wyneken beschäftigten uns oft und lebhaft. Wir waren auch alle Mitglieder des „Bundes für Schulreform“ und besuchten gemeinsam seine Versammlungen. Ich empfand aber schon damals, daß dort noch sehr viel Unklarheit herrschte und oft weit übers Ziel hinaus geschossen wurde. In jedem Semester wurden mehrere Besichtigungen gemacht: wir besuchten unter sachkundiger Leitung Hilfschulen, Taubstummen- und Blindenanstalten, Fürsorgeerziehungsanstalten, Heime für Schwachbefähigte und für verwahrloste Kinder. Den tiefsten Eindruck machte uns ein Kinderheim auf dem Warteberg, das wir mehrmals besuchten. Es war ein ehemaliges Schloß in landschaftlich schöner Lage in der Nähe von Obernigk, mit ausgedehntem Garten. In den hellen, freundlichen Räumen waren Kinder aus verwahrlosten Familien untergebracht. Die Jüngsten waren damals Zwillinge von zwei Jahren. Sie lagen im Garten in einem Zwillingswagen, sauber und wohlgenährt und vergnügt. Die Ältesten konnten schon zur Pflege und Beaufsichtigung der Kleinen herangezogen werden. Diakonissen aus dem Mutterhaus der „Mutter Eva“ (Gräfin Thiele-Winkler) in Miechowitz–Oberschlesien

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)