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Der Verkehr mit Menschen, die soviel älter, reifer und wissenschaftlich fortgeschrittener waren, bot der kleinen Studentin natürlich viel Anregung und Förderung; er war aber auch eine Gefahr. Wenn die Kommilitonen mir von ihren Doktor- und Staatsarbeiten sprachen, so erlaubte mir eine leichte Auffassungsgabe und eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken, ihnen im Augenblick zu folgen, vielleicht sogar kritische und anregende Bemerkungen einzustreuen. Das erweckte den Anschein, daß ich ihnen gleichstünde, und täuschte auch mich selbst. Ich besuchte die Kollegs und Seminare für Fortgeschrittene und übersprang manche Grundlagen, die mir nötig gewesen wären.

Leiter der Pädagogischen Gruppe war in jenen Semestern Alfred Mann. Auch er war einige Jahre älter als ich, aber doch erheblich jünger und unreifer als Hermsen und Popp. Er trat auch in den Diskussionen noch bescheiden hinter ihnen zurück. Nur manche Bemerkungen in privatem Gespräch zeigten ausgesprochen demokratische Neigungen (die Gruppe als solche war ganz unpolitisch), scharfe Kritik und einen derben Humor. Er war groß und für seine Jugend schon viel zu dick, sein rundes, hübsches Gesicht war bleich; eine nervöse Schwäche – eine in kurzen Abständen wiederkehrende zuckende Bewegung des Kopfes – wirkte sehr störend. Außerdem war er sehr zerstreut und vergeßlich und kokettierte etwas damit: oft sagte er mir schon morgens vor acht Uhr telephonisch alles, woran ich ihn im Laufe des Tages erinnern sollte. Da ich damals noch ein vorzügliches Gedächtnis hatte, konnte er dann beruhigt sein. Von dem gesteigerten Selbstbewußtsein und der lauten, rücksichtslosen Art, die später im öffentlichen Leben unangenehm auffielen, als er nach der Revolution Leiter der Breslauer Volkshochschule wurde, war damals noch kaum etwas zu bemerken.

Verkehrsgast der Pädagogischen Gruppe und des Sternschen Seminars war Georg Moskiewicz (von seinen Freunden „Mos“ genannt) , damals schon Dr. med. et phil., etwa 33 J. alt, als ich anfing zu studieren. Die nähere persönliche Bekanntschaft zwischen uns vermittelte Rose Guttmann. Mos war der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. Mit Rücksicht auf seinen Vater hatte er das „praktische“ Medizinstudium gewählt, später erhielt er aber die Erlaubnis, zur Philosophie und Psychologie überzugehen. Er war Schüler von Ebbinghaus und sollte sich bei ihm habilitieren; aber sein Lehrer starb, ehe es dazu kam. Nun arbeitete er weiter an seiner psychologischen Habilitationsschrift, ohne zu wissen, wer sie ihm abnehmen würde. Er hatte – wie viele Ostjuden – rötliche Haare und helle Augen. Seinem blassen, nervösen Gesicht und dem etwas scheuen und unruhigen Blick merkte man an, daß ihn etwas innerlich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/148&oldid=- (Version vom 28.5.2019)