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einer Klasse gestanden“. Er legte die Hand aufs Herz. „O, gnädiges Fräulein, Sie haben ja immer alles gekonnt; Sie werden auch das können“. Als ich immer noch unschlüssig war, bat er mich, mit ihm in das Schulgebäude hinüberzugehen und mit dem kranken Kollegen selbst zu sprechen. Im Amtszimmer des Direktors befand sich ein großer Stundenplan für die Anstalt. Er bestand aus beweglichen bunten Holztäfelchen. Jedes Mitglied des Kollegiums hatte seine Farbe. Mit einem raschen Blick war hier festzustellen, in welcher Klasse sich gegenwärtig Herr Kretschmar befand. Wir gingen hinüber und riefen ihn auf den Gang heraus. Er sagte mir noch einmal alles, was ich zu übernehmen hätte: die Hauptsache war der Lateinunterricht in den drei Oberklassen; dazu kamen noch einige Stunden Deutsch, Geschichte und Erdkunde. „Wenn Sie selbst durchaus nicht können, dann besorgen Sie uns eine andere ehemalige Schülerin. Am liebsten ist es mir aber, wenn Sie selbst kommen“[1]. Als ich das hörte und zugleich die fiebrig glänzenden Augen sah, brauchte ich keine Überlegung mehr. Anfang Februar begann ich meine erste Schultätigkeit – knapp 5 Jahre nachdem ich dieses Haus als Abiturientin verlassen hatte.

Bis Ostern hatte ich nur 12 Wochenstunden, da das Abitur schon vorbei und die Oberprima entlassen war. Von Ostern ab kamen noch 6 Stunden (Latein und Geschichte) in Oberprima hinzu. In dieser Klasse waren drei Schülerinnen, die die Prüfung nicht bestanden hatten und im Herbst wiederholen mußten. Ich hatte mich darauf gefaßt zu machen, daß ich dann auch der Prüfungskommission angehören würde, um das Examen in Latein abzuhalten.

Völlig unbeschwert durch irgendwelche pädagogische Vorbildung ging ich ohne große Ängstlichkeit an meine Aufgabe heran. Der vorzügliche Unterricht, den wir bei Professor Olbrich gehabt hatten, war mir noch lebhaft in Erinnerung und diente mir als Richtschnur. Die Lateinstunden meiner ersten Breslauer Semester steuerten manche Anregung bei. Meine eigene Freude an den alten Schriftstellern half mir, auch bei den Schülerinnen Verständnis zu erwecken. Ich suchte auch bei der Auswahl der Lektüre das heraus, was fruchtbare Anregung versprach. Z.B. las ich mit den Primen viel mehr Tacitus, als man uns in meiner Schulzeit zugemutet hatte. Es waren sehr begabte Mädchen in den Oberklassen; sie nahmen mit großer Dankbarkeit alles auf, was über den herrkömmlichen Schulbetrieb hinausging. Eine Einführung in die griechische Philosophie, die ich ihnen zur Vorbereitung auf Ciceros philosophische Schriften gab, wurde


  1. Er legte beide Hände auf die Brust und sagte: „Ich bin lungenkrank und soll eine Liegekur machen“.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/291&oldid=- (Version vom 31.7.2018)