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Die Beschreibung der zweiten Lebenshälfte, die das Archivum Carmelitanum als nächsten Band von Edith Steins Werke zu veröffentlichen hofft, soll darstellen, wie der Glaube und die Erkenntnis die Erscheinung Edith Steins in voller Entfaltung zeigt.

Es sei uns erlaubt, diese Betrachtung durch eine Skizze der geistigen Entwicklung Edith Steins zu verdeutlichen.

Klar und lichtvoll war Ediths Erscheinung von Jugend auf. Ihr Gemüt war empfänglich für das Gute und Schöne, doch bald erkannte ihre Vernunft auch den Schatten, den jedes irdische Licht wirft.

Sie hatte ein einfühlendes Herz, längst ehe das Problem der Einfühlung als Thema ihrer Dissertation in den Brennpunkt ihres philosophischen Interesses trat.

Den tieferen Sinn der Dinge in voller Klarheit zu erkennen, zum Ursprung ihres Seins vorzudringen, das war das aufrichtige Verlangen dieses Menschen. So gelangte Edith zum Quell alles Werdens und Vergehens und erkannte den Sinn des Seins im ewigen Logos, dessen Abbild in der Seele des Menschen individuell niedergelegt ist.

Der Aufstieg zum endgültigen Ruhen in der Wahrheit bleibt der Darstellung der zweiten Lebenshälfte vorbehalten. Die Selbstbiographie der ersten Lebenshälfte steht im Zeichen des ergreifenden Wortes Edith Steins im Rückblick auf ihr eigenes Leben: „Meine Sehnsucht nach Wahrheit war ein einziges Gebet“.

Dieses Gebet wurde im Himmel vernommen, noch ehe sie selbst begriff, wohin sie ihr strebendes Bemühen führen sollte. Der Vater in der ewigen Höhe erhört ja gerade solches Gebet, auch wenn das Kinderherz es noch nicht zu deuten versteht.

Ediths Jugendfreund, Fritz Kaufmann, schrieb mir wenige Jahre vor seinem Tod die folgende Betrachtung, ein erhabenes Zeugnis religiösen Philosophierens und menschlicher Größe[1]:

„Daß das Gebet eine Lebensmitteilung ist und die Tür zu Lebensräumen aufstößt, die weit über den Einzelnen hinausreichen, daß es im Preise dieser unbegreiflichen Macht, die im Alleben waltet, uns mit ihm eint, das fühlte und glaube ich auch; und es ist ja der Sinn des jüdischen Kaddisch: Rühmung der Allmacht noch am Grab unsrer Lieben. Daß das, was in ihnen lebendig war und wirkte, wirksam lebendig bleibt – nicht nur von Gnaden der Erinnerung, die wir ihnen bewahren, sondern in einer Gnade, die uns geschenkt wird und uns bewahrt, – so wie sie schon zuvor in dem war, was


  1. Brief von Prof. Dr. Fritz Kaufmann, Universität Buffalo, N.Y., an S.H. Pater Romaeus Leuven, 10. Oktober 1953. Der Brief befindet sich im Besitz des Archivum Carmelitanum Edith Stein.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite VI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)