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Sprachen, und so fügte sie sich nach einigem Widerstreben. Sie mußte sich auf eine scharfe Prüfung gefaßt machen. Unsere Schule bekam erst im folgenden Jahr das Recht, selbst das Abitur für ihre Absolventinnen abzuhalten. Bis dahin wurden alle an ein Knabengymnasium überwiesen und von den fremden Lehrern in fast allen Fächern durchgeprüft. Die Examensnöte wurden natürlich von der ganzen Familie geteilt. Während der mündlichen Prüfung hielt ich mich fast den ganzen Tag in den Vorzimmern auf, um nach jedem Fach sofort das Ergebnis zu hören und in den Pausen nicht nur meine Schwester, sondern auch ihre Leidensgefährtinnen zu ermuntern und zu trösten. Am Abend waren Mutter und Geschwister fast vollzählig zur Stelle, um sie nach geschlagener Schlacht im Triumph heimzuführen. Daß ich mich an ihrer Mulusreise beteiligen durfte, erwähnte ich schon. Auch auf den ersten Wegen zur Universität, z.B. zur Immatrikulation, mußte ich sie begleiten, während meiner Pfingstferien jede Vorlesung einmal mithören, um die Professoren und den ganzen Betrieb kennenzulernen; sogar in die Knochen- und Bändersammlung der Anatomie nahm sie mich mit um ihr beim Lernen Gesellschaft zu leisten. Das war aber nur während der ersten Semesterwochen; sehr bald hatte sie andere Gesellschaft. Die schöne, junge Studentin zog die Augen der Kommilitonen auf sich. Der Keckste stellte sich selbst und einige nähere Bekannte ihr vor. Zwei begleiteten sie nun regelmäßig auf den Wegen von einem Institut zum andern. Bald schlugen sie auch eine Verabredung zum Tennisspielen vor; auf dem Tennisplatz lernte ich den kennen, der bald meinen Platz an der Seite meiner Schwester einnehmen sollte. Allerdings nicht so, daß dies eine Trennung zwischen uns bedeutet hätte. Das war schon darum nicht nötig, weil wir beide – Hans Biberstein und ich – uns recht gut verstanden. Er gefiel mir gleich sehr gut, wie er da auf dem Tennisplatz mir gegenüberstand. Der weiße Tennisanzug stand ihm ausgezeichnet zu dem braunen Gesicht und den glänzend schwarzen Haaren, gegen die sich die sehr hellen Augen eigenartig abhoben. Er war klein, schlank und sehnig und flog selbst leicht wie ein Gummiball von einem Ende des Platzes zum andern. Er spielte mit Leidenschaft, und es konnte ihn in gelinde Verzweiflung bringen, wenn ich mit stoischer Ruhe einem Ball nachsah, den ich nach meiner Berechnung doch nicht kriegen konnte. Hatte man ihn zum Gegner, dann war er ein erbitterter Feind, solange das Spiel dauerte. Sobald es aber zu Ende war, trat er dicht ans Netz und reichte einem darüber hinweg mit treuherzigem Blick die Hand zur Versöhnung. In den Gesprächen auf dem Heimweg stellten sich bald starke gemeinsame Interessen heraus. Er war wie ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)