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und Jakobi. Sie waren bei uns gern gesehen, besonders Hans Biberstein freundete sich mit ihnen an. Dagegen wurde ein dritter Freund Lillis, der später hinzukam, von uns allen entschieden abgelehnt. Paul Berg kam aus der Provinz Posen. Er war streng jüdisch erzogen und wußte viel mehr vom Judentum als wir alle. Bei Guttmanns, Bibersteins und Plataus war der Zuschnitt des Hauses noch sehr viel liberaler als bei uns; sie lebten alle nicht mehr rituell. Wir konnten uns nicht darüber beklagen, daß Paul Berg uns mit seinen Anschauungen lästig gefallen wäre, er trat kaum damit hervor. Er hatte auch keineswegs den unangenehmen Tonfall der ungebildeten Ostjuden, der den deutschen „Assimilationsjuden“ noch viel mehr auf die Nerven fällt als den „Ariern“. Er sprach vielmehr ein sehr reines und gepflegtes Deutsch. Wir hatten ihm eigentlich nichts vorzuwerfen, als daß er übertrieben höflich und liebenswürdig war und eine weichliche, süßliche Art hatte, die zu unserm ungezwungenen, etwas kecken Studententon gar nicht paßte. Mich reizte seine Gegenwart immer dazu, ihn durch besonders burschikose Redensarten zu erschrecken, und Hans Biberstein verfolgte ihn beständig mit seinem beißenden Spott. Augenscheinlich hatte er Lilli gegenüber die ernstesten Absichten. Aus ihr selbst wurden wir nicht ganz klug. Sie verteidigte ihn nur schwach gegen unsere Angriffe, hielt aber an der Freundschaft fest, so daß wir uns wohl oder übel an ihn gewöhnen mußten. Als wir vier Freundinnen und unsere Schwester Rosa einmal in den Weihnachtsferien zum Wintersport ins Riesengebirge fuhren, schloß er sich als einziger männlicher Begleiter uns an und war uns allen eine diensteifrige Kammerzofe. Wenn wir naß von Schnee in eine Baude kamen, half er uns allen die Sweater aus- und anziehen; er nähte die abgerissenen Knöpfe an, und wenn eine beim Bergangehen müde wurde, zog er den Rodelschlitten. Wir ließen uns das alles lachend gefallen. Wenn wir dann abends in dem gemütlichen „Landhaus Martha“ in Oberschreiberhau um einen großen runden Tisch saßen und in ernsten Weltanschauungsgesprächen heiße Köpfe bekamen, war er sichtlich mit ganzem Herzen dabei. Wir fühlten, wie dankbar er war, in einen so hochgestimmten Kreis aufgenommen zu sein, und das stimmte uns milder. Von da ab pflegte ich ihn zu verteidigen, wenn in seiner Abwesenheit in der gewöhnlichen Weise über ihn gespottet wurde.

Bei allen gern gesehen war ein junger Mathematiker, den Rose bei uns einführte. Er hieß Willy Strietzel – das enfant terrible Karl Guttmann sagte, mit Rose zusammen gebe das Rosinenstrietzel – und war aus kleinbürgerlicher Familie, der Sohn eines Tischlers, dem Namen nach protestantisch, aber nicht gläubig. Er war klein, hatte blonde Stehhaare und eine etwas aufgestülpte Nase und sprach

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/89&oldid=- (Version vom 31.7.2018)