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Einführung in den Sinn der Nacht

sie selbst davon freimachte. Aus eigener Kraft hätte sie es nicht vermocht. Mit dieser kurzen Erklärung ist schon der bedeutsame Unterschied zwischen aktiver und passiver Nacht gekennzeichnet, der später noch ausführlich behandelt wird, und das wechselseitige Verhältnis beider. Um frei zu werden von der Fesselung durch ihre sinnliche Natur, muß die Seele mit aller Kranftanspannung darauf hinarbeiten, aber Gott muß ihr mit Seiner Wirksamkeit zu Hilfe kommen, ja zuvorkommen: Gottes Tun regt das ihre an und vollendet es.

Die Loslösung wird als eine Nacht bezeichnet, die die Seele durchschreiten muß. Sie ist es in dreifachem Sinn: im Hinblick auf den Ausgangspunkt, den Weg und das Ziel. Ausgangspunkt ist das Verlangen nach den Dingen dieser Welt, dem die Seele entsagen muß. Diese Entsagung versetzt sie aber in Dunkelheit und wie ins Nichts. Darum wird sie Nacht genannt. Die Welt, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, ist ja natürlicherweise der feste Grund, der uns trägt, das Haus, in dem wir uns heimisch fühlen, das uns nährt und mit allem Nötigen versorgt, Quelle unserer Freuden und Genüsse. Wird sie uns genommen oder werden wir genötigt, uns aus ihr zurückzuziehen, so ist es wahrlich, als wäre uns der Boden unter den Füßen weggezogen und als würde es Nacht rings um uns her; als müßten wir selbst versinken und vergehen. Aber dem ist nicht so. In der Tat werden wir auf einen sicheren Weg gestellt, allerdings auf einen dunklen Weg, einen in Nacht gehüllten: den Weg des Glaubens. Es ist ein Weg, denn er führt zum Ziel der Vereinigung. Aber es ist ein nächtlicher Weg, denn im Vergleich mit der klaren Einsicht des natürlichen Verstandes ist der Glaube eine dunkle Erkenntnis: er macht uns mit etwas bekannt, aber wir bekommen es nicht zu sehen. Darum muß gesagt werden, daß auch das Ziel, zu dem wir auf dem Weg des Glaubens gelangen, Nacht ist: Gott bleibt auf Erden auch in der seligen Vereinigung für uns verhüllt. Unser Geistesauge ist Seinem überhellen Licht nicht angepaßt und schaut wie in nächtliches Dunkel. Wie aber die kosmische Nacht nicht ihrer ganzen Dauer nach gleich dunkel ist, so hat auch die mystische Nacht ihre Zeitabschnitte und entsprechenden Grade. Das Versinken der Sinnenwelt ist wie das Hereinbrechen der Nacht, wobei noch ein Dämmerlicht von der Tageshelligkeit zurückbleibt. Der Glaube dagegen ist mitternächtliches Dunkel, weil hier nicht nur die Sinnestätigkeit ausgeschaltet ist, sondern auch die natürliche Verstandeserkenntnis. Wenn aber die Seele Gott findet, dann bricht in ihre Nacht gleichsam schon die Morgendämmerung des neuen Tages der Ewigkeit herein.

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/039&oldid=- (Version vom 3.8.2020)