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Dunkle Nacht der Sinne

jetzt gar nichts anders tun als die „Geduld bewahren und im Gebet ausharren, ohne irgend eine Tätigkeit; es wird hier von ihnen allein gefordert, daß sie ihre Seele frei und unbehindert von allen Erkenntnissen und Gedanken und in Ruhe bewahren, ohne sich darum zu kümmern, was man denken und betrachten soll; es genügt, wenn sie in einem ruhigen und liebenden Aufmerken auf Gott verharren und jede Besorgnis, jede Tätigkeit und jedes übermäßige Verlangen, Gott wahrzunehmen und zu kosten, ausschließen“. Statt dessen mühen sie sich ohne sachkundige Führung vergeblich ab, quälen sich vielleicht noch mit dem Gedanken, daß sie mit dem Gebet nur Zeit verlieren und es lieber aufgeben sollten. Würden sie sich der dunklen Beschauung ruhig überlassen, dann würden sie bald spüren, was der 2. Vers des Nachtliedes sagt: das Aufflammen der Liebe. „Denn die Beschauung ist nichts anderes als ein geheimnisvolles fried- und liebevolles Einströmen Gottes, welches, wenn man es nicht hindert, die Seele mit dem Geist der Liebe entflammt“[1]. Anfangs wird diese Entflammung der Liebe gewöhnlich gar nicht wahrgenommen. Die Seele fühlt vielmehr nur Trockenheit und Leere, schmerzliche Angst und Besorgnis. Und wenn sie etwas davon spürt, so ist es ein peinvoller Sehnsuchtsdrang nach Gott, eine schmerzende Liebeswunde. Erst später wird sie erkennen, daß Gott sie durch die Nacht der Sinne reinigen und die Sinne dem Geist unterwerfen wollte. Dann wird sie ausrufen: O glückliches Geschick! Und es wird ihr klar werden, welchen Gewinn das „unbemerkte Entweichen“ für sie bedeutete: es hat sie befreit von der Knechtschaft, in der die Sinne sie hielten, ihre Neigung nach und nach losgelöst von allen Geschöpfen und den ewigen Gütern zugewendet. Die Nacht der Sinne war für sie die enge Pforte (Matth. 7,14), die zum Leben führte. Nun soll sie auf dem schmalen Weg durch die Nacht des Geistes wandeln. So weit gelangen freilich nur wenige, doch schon die Vorteile aus der ersten Nacht sind überaus groß: es wird der Seele Selbsterkenntnis verliehen; sie kommt zur Einsicht in ihr eigenes Elend, findet nichts Gutes mehr an sich und lernt dadurch, mit größerer Ehrfurcht Gott gegenüberzutreten. Ja, erst jetzt geht ihr die Größe und Erhabenheit Gottes auf. Gerade die Freiheit von allen sinnlichen Stützen ermöglicht es ihr, Erleuchtungen zu empfangen und für die Wahrheit zugänglich zu werden. Darum heißt es im Psalm: „Im wüsten, unwegsamen und wasserlosen Lande erscheine ich vor Dir im Heiligtum, um Deine Herrlichkeit zu schauen“ (Ps. 62,3). Der Sänger gibt damit


  1. a. a. O. § 11 Kap. 10), E. Cr. II 33 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/046&oldid=- (Version vom 3.8.2020)