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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

„schon im gleichen Augenblick, in dem sie auftritt oder wahrgenommen wird, im Geist ihre erste Wirkung hervorbringt, ohne der Seele auch nur Zeit zu lassen zur Überlegung, ob sie will oder nicht“. Und im Gegensatz zu teuflischen Visionen, die „dem Willen die ersten Anregungen geben, ohne ihn weiter zu bringen, wenn er nicht selber will“, dringen die göttlichen „zutiefst in die Seele ein, regen den Willen zur Liebe an und tun so ihre Wirkung, der die Seele nicht widerstehen kann, wenn sie es auch will“. Trotz dieser heilsamen Wirkungen darf die Seele nach solchen Erscheinungen durchaus kein Verlangen haben: 1) weil sie dem Glauben Eintrag tun, der über alles sinnlich Wahrnehmbare erhaben ist, und so die Seele vom einzigen Mittel zur Vereinigung mit Gott ablenken; 2) halten sie den Geist auf und hindern ihn, sich zum Unsichtbaren zu erheben; 3) lassen sie die Seele nicht zur wahren Entsagung und Entblößung des Geistes gelangen; 4) wird sie durch das Haften am Sinnenfälligen weniger empfänglich für den Geist der Andacht; 5) gehen ihr die Gnaden verloren, die Gott ihr spenden will, wenn sie selbstsüchtig nach den Visionen hascht; 6) öffnet das Verlangen danach dem Teufel Tür und Tor, sie mit ähnlichen Erscheinungen zu hintergehen. Lebt die Seele jedoch im Verzicht und ist sie solchen Erscheinungen „abgeneigt, dann läßt der Teufel von ihr, weil er sieht, daß er ihr nicht schaden kann. Gott dagegen gießt Seine Gnaden in zuvorkommender Liebe über jene demütige und selbstlose Seele aus und erhebt sie über vieles, wie es jenem Knecht geschah, der in wenigem getreu war (Matth. 25,21). .... Erweist sich die Seele immer treu und zurückhaltend, dann wird der Herr nicht ruhen, bis Er sie von Stufe zu Stufe zur göttlichen Vereinigung und Umgestaltung geführt hat“[1].

Ebenso wie die Wahrnehmungen der äußeren Sinne, sind auch die Gebilde der inneren Sinne, Einbildungskraft und Phantasie, abzuweisen. Die eine sucht Bilder zu vergegenwärtigen, die andere gestaltet das Vergegenwärtigte. Beide sind von Bedeutung für die Betrachtung, die ein Nachdenken im Anschluß an solche Bilder ist. (Man kann sich z.B. Christus am Kreuz oder an der Geißelsäule vorstellen oder Gott auf dem Thron der Herrlichkeit.) All diese Gebilde sind so wenig wie die Gegenstände der äußeren Sinne als nächste Mittel zur Vereinigung mit Gott tauglich, weil „die Einbildungskraft nichts schaffen oder vorstellen kann, als was in den Erfahrungskreis der äußeren Sinne gelangt ist ....; wenn es hochkommt, kann sie den gesehenen, gehörten, gefühlten Gegenständen


  1. Aufstieg, B. II Kap. 10, E. Cr. I 137 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/058&oldid=- (Version vom 3.8.2020)