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Der Seele Brautgesang

Gott erscheint. Diese Vereinigung kann zwar in diesem Leben nicht in vollkommener Weise stattfinden, aber sie übertrifft alles, was man sagen und denken kann“[1]. Hier am Ziel besitzt die Seele eine wunderbare, göttliche Gnadenfülle, unvergleichlich mit jener der geistigen Verlobung. Der Frieden ist viel tiefer und beständiger. Sie fühlt sich mit Gott in wirklicher, inniger geistiger Umarmung verbunden und lebt dadurch das Leben Gottes. Ihr Hals ruht auf den Armen des Geliebten: Er leiht ihr Seine Stärke, um ihre Schwä­che in göttliche Stärke umzuwandeln.

Es ist ein neues Paradies, in das sie eingegangen ist. Unter dem Apfelbaum wird die Vermählung vollzogen. Die treue Seele wird eingeführt in die wunderbaren Geheimnisse Gottes, vor allem die süßen Geheimnisse der Menschwerdung und Erlösung: wie im Pa­radies durch den Genuß der verbotenen Frucht des Baumes die menschliche Natur zerstört und dem Verderben preisgegeben wurde, so ward sie unter dem Baum des Kreuzes von Ihm erlöst und wie­derhergestellt. Dort auf der Höhe des Kreuzes war es, wo der Bräu­tigam ihr die Hand Seiner Gnade und Erbarmung reichte und durch die Verdienste Seines Leidens und Sterbens der Feindschaft ein Ende machte, die seit der Erbsünde den Menschen von Gott trennte. Un­ter dem Paradiesesbaum ist die Mutter (die menschliche Natur) in der Person der Stammeltern durch die Sünde entehrt worden. Un­ter dem Kreuzesbaum wird der menschlichen Seele das Leben wie­dergeschenkt. Die Verlobung unter dem Kreuz ist mit der mysti­schen nicht einfach gleichzusetzen: sie wird schon bei der Taufe vollzogen und auf einmal, während die mystische Verlobung an die persönliche Vervollkommnung geknüpft ist, dementsprechend allmählich vor sich geht und von der Großmut der Seele abhängt. Im Grunde ist es aber doch dieselbe Vereinigung[2].


e) Brautsymbol und Kreuz
(Mystische Vermählung – Schöpfung, Menschwerdung und Erlösung)

Wir stehen hier an einem wesentlichen Punkt und müssen ver­suchen, im Verständnis noch etwas tiefer zu dringen, als die Erläu­terungen des Heiligen selbst uns in ausdrücklichen Worten führen.


  1. Erklärung zu Str. 22 (27) V. 2, Obras III 321 u. 133.
  2. Diese Erklärung zu Str. 23 (28), Obras III 386 u. 136, ist in der zweiten Fassung sehr erweitert. Der Vergleich der Verlobung in der Taufe mit der mysti­schen Verlobung ist neu eingefügt. Er entspricht dem Bestreben, gnadenhafte und mystische Vereinigung in nahe Verbindung zu bringen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/226&oldid=- (Version vom 6.1.2019)