Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/26

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

mächtig an sein Herz? Ist sie es nicht, die mitten im Hexentreiben der Walpurgisnacht das bleiche Bild der Verlassenen vor ihm erscheinen läßt und ihn zu ihrer Rettung antreibt? Machtvoll tut sie sich in der Seele der Verurteilten kund, die sich von dem Geliebten losreißt und den Weg der Buße und des Todes wählt, in der Stimme des Engels, der ihre Rettung verkündet. Vermag sie ihn jetzt noch nicht von dem Gefährten zu trennen, so wird sie doch unaufhaltsam weiterwirken. Von jetzt an wird er sich nicht mehr einfach führen lassen, sondern nach eigenen, nach hohen Zielen Ausschau halten, nach solchen, die der Geist der Verneinung nicht zu fassen vermag.

Das Los der Seele ist kein mechanisches Ergebnis ihrer widerstreitenden Kräfte; sie ist auch kein Spielball im Kampf zwischen Himmel und Hölle. Er wählte in Freiheit selbst seinen Weg, eben dadurch dem Irren ausgesetzt. Kraft seiner Freiheit glaubt er sich den Durchbruch in eine höhere Welt erzwingen zu können, und ein freier Entschluß läßt ihn auf der Schwelle umkehren. So hoch gilt ihm die Freiheit, daß er als Anfang alles Seins die Tat setzt. In freier Entscheidung schließt er den Pakt mit dem Teufel, gibt seinen Einflüsterungen nach, als sein besseres Selbst ihn Gretchens Nähe fliehen heißt, zwingt ihn andererseits, mit ihm zu ihrer Rettung zur Stadt zurückzueilen. Sein freier Wille ist es wiederum, wenn er mit dem Gefährten flieht, statt mit ihr den Bußweg zu gehen. Frei entschließt er sich, dem Schaudern der Natur zum Trotz, zu den „Müttern“ hinabzusteigen, um das Bild der höchsten Schönheit zu finden und sie auf diese Welt heraufzubeschwören. Frei entscheidet er sich zum Kampf mit den Elementen in mühevoller Arbeit. Und Mephisto selbst muß ihm schließlich bezeugen, daß er ihm kräftig widerstanden hat. Eben dieses rastlose Streben des freien Geistes ist nach dem Gesang der himmlischen Chöre die Vorbedingung seiner Rettung: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.

Rundet sich damit Goethes Lebensdichtung zum katholischen Weltbild, tritt er an die Seite Dantes und Calderons? Es scheint fast, als wäre alles Nötige vorhanden: der Mensch, mit natürlichem Drange dem höchsten Ziel entgegenstrebend, aber von niedern Trieben aufgehalten und abgelenkt, böse und gute Geister an seiner Seite, er frei wählend dazwischen und damit der Gnadenhilfe von oben sich entgegenbemühend? Und doch wird jeder, der mit unbefangenem

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/26&oldid=- (Version vom 31.7.2018)