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Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

Wir haben nicht zu urteilen über den Menschen Goethe, über seinen Glauben, über das, was zwischen ihm und dem Herrn vorging in jenen Augenblicken, die über des Menschen Ewigkeit entscheiden. Das sind Geheimnisse Gottes, in die kein Menschenauge hineinschaut. Wir stehen vor des größten deutschen Dichters größter Dichtung und fragen uns: können wir dieses Werk der deutschen Jugend und dem deutschen Volk in die Hände legen und sagen: nehmt es hin, nehmt es in euch auf, laßt euch ganz durchdringen von dem Geist, der darin lebt und daraus spricht; es ist das Beste, das wir euch zu bieten haben, es ist das Eine, das nottut? Wir blicken auf zum Bild des Gekreuzigten und sagen: Nein.

Dieses Werk gehört zu den wenigen ganz großen Menschheitsdichtungen, weil es die große Frage der Menschheit, die Frage nach Sündenfall und Erlösung, in ihrer ganzen Tiefe und Weite und Schwere aus der Fülle des Menschenlebens heraus sich entrollen läßt. Aber sie beantwortet diese Frage mit einer blendenden Scheinlösung. Das große Werk ist, wenn wir versuchen, es als den gotischen Dom zu nehmen, den die Eingangshalle verspricht, ein gewaltiger Torso. Nehmen wir es als Ganzes, so wie es sich darstellt, wenn wir alle seine Teile durchwandern, so ist es kein einfacher Organismus, sondern zwei Grundrisse von völlig verschiedenem Charakter durchdringen sich: das, was wir als Renaissancebau und als gotischen Dom bezeichneten. Es liegt nicht nur an der Willkür oder der subjektiven Einstellung des Beschauers, wenn es einmal als Tragödie des modernen, des neuzeitlichen Menschen und zugleich als Selbstbekenntnis des Menschen Goethe erscheint und von der andern Seite als das große Menschheitsdrama schlechthin. Beides steckt darin und keiner der beiden Grundrisse hat den andern zu überwinden und zu verdrängen versucht, und schließlich ist das Ganze als ein Notbau zum Abschluß gebracht worden. Man kann es als individuelle Bekenntnisdichtung nehmen und verfolgen, wie das Werden und die Wandlungen des Menschen Goethe sich darin niedergeschlagen haben. Man kann es als Symbol des deutschen Geisteslebens nehmen: wie der große Dom des geschlossenen mittelalterlichen Weltbildes durchbrochen wurde in der Zeitenwende der Renaissance, wie ein verzweifeltes Suchen und Ringen an die Stelle des Stehens auf Felsengrund trat, und schließlich statt des Ringens um Ewigkeitsfragen eine Beschränkung auf greifbare, praktische Ziele. Man kann es

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Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)