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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

200. 201. Sonore und Geräuschlaute. 77


stimmhafte und stimmlose Dauerlaute ohne Reibungsgeräusch fehlt, so möge es auch ferner gestattet sein, den eigentlichen, d. h. stimmhaften, Sonoren zur Bezeichnung von stimmlosen Lauten, die sonst wie die Sonoren, d. h. ohne Reibungsgeräusch gebildet werden, 'stimmlose Sonore gegenüberzustellen. Die an sich gewiss widerspruchsvolle Zusammenstellung von ‘stimmlos’ und 'sonor’ ist ja nicht schlimmer als z. B. der allgemein übliche Terminus 'stimmlose Vocale’, der gerade auch von solchen Phonetikern mit Vorliebe gebraucht worden ist und gebraucht wird, welche die Zusammenstellung von ‘stimmlos’ und ‘sonor’ aufs Heftigste bekämpfen.

200. Was die Bezeichnung und Classification der bisher besprochenen Parallelformen anlangt, so ist die Praxis der Grammatik und Sprachwissenschaft darin nicht consequent gewesen. Man pflegt z.B. ein sonores i einen Vocal zu nennen, bei Stimmlosigkeit aber zum Theil unter die h einzurechnen (vgl. 282); ein stimmhaftes i mit Reibungsgeräusch bezeichnet man als die Spirans j, die stimmlose Parallele dazu als die palatale Spirans ch. Auf der andern Seite fasst man sonore und spirantische l, v, etc. im Anschluss an die hergebrachte Orthographie (die sich nur je eines Zeichens bedient) in der Regel als Varietäten desselben Lautes auf; bei den Liquiden und Nasalen rechnet man aus demselben Grunde auch die stimmlosen Formen meist als Unterarten mit ein, während man den stimmhaften ‘Spiranten’ v, die stimmlosen f, ch als gesonderte Laute gegenüberstellt. Bei all diesen Abgrenzungen ist man von dem verhältnissmässig einfachen Lautbestande der älteren indogermanischen Sprachen ausgegangen, und an diesen schliessen sich denn in der Regel die üblichen Definitionen der verschiedenen hierher gehörigen Laute oder Lautgruppen an. Mit wachsender Kenntniss des bunteren Lautbestands der moderneren Sprachen hat man das neu hinzutretende Material meist nach seinem historischen Zusammenhang mit dem älteren betrachtet, und nur in entsprechender Weise die alten Definitionen der einzelnen Gruppen erweitert. So stützen sich z. B. die herkömmlichen Definitionen der Vocale, Liquidae und Nasale auf die sonoren Formen dieser Laute, die geräuschhaften oder stimmlosen Formen werden als abgeleitete betrachtet, wie umgekehrt etwa sonore Nebenformen zu den spirantischen z, th, v, als Abkömmlinge dieser aufgefasst.

201. Für die rein phonetische Betrachtung und Gruppirung der Sprachlaute ist natürlich eine solche Auffassungsweise zu verwerfen; dem Sprachhistoriker aber bietet die historische Gruppirung erhebliche Vortheile dar. Insbesondere ist für die

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/97&oldid=- (Version vom 23.5.2022)