Jonathan Swift übersetzt von Franz Kottenkamp: Ein sonderbarer Traum | |
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setzte sich auf die äußerste Ecke des Stuhles, obgleich sechs Stühle zwischen ihr und ihrem Liebhaber standen, obgleich die Thür weit offen gelassen und eine kleine Schwester mit im Zimmer war. Sie hatte sich nie anders als an den Ohrzipfel küssen lassen; ihr Vater hatte stets viel Mühe, ihr einzureden, daß sie ohne Handschuhe sich zum Mittagessen setzte, wenn ein Mann zugleich bei Tische war. Als sie nun mit einiger Furcht in die Höhle trat, glaubten wir den Grund in der Höhe ihrer Keuschheit zu finden, welche am Anblick so vieler Männer auf der Gallerie etwa Anstoß nehmen könnte. Sobald der Löwe sie aber in einiger Entfernung erblickte, gab er sogleich das tödtliche Zeichen, worauf das arme Geschöpf (mich däucht, ich sehe sie noch vor mir), im höchsten Schrecken vor unsrer aller Augen frühzeitig niederkam. Der Löwe schien eben so erstaunt, wie wir, und ließ ihr Zeit zum Bekenntniß: Seit fünf Monaten sei sie vom Ladenaufseher ihres Vaters in der Hoffnung und bereits schon zum dritten Mal in andern Umständen. Als nun ihre Verwandten fragten, weßhalb sie denn in die Gefahr der Prüfung sich begeben habe? – antwortete sie: Ihre Amme habe ihr früher erzählt, ein Löwe wage es niemals, einer Dame in andern Umständen Schaden zuzufügen. – Bei diesen Worten erwachte ich und konnte den Wunsch nicht unterdrücken, daß alle Sittenrichter den Instinkt der Kirchspiellöwen besitzen möchten.
Jonathan Swift übersetzt von Franz Kottenkamp: Ein sonderbarer Traum. Scheible, Rieger & Sattler, Stuttgart 1844, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_sonderbarer_Traum-Swift-1844.djvu/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)