Seite:Erinnerungen an Pauline Viardot.pdf/4

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Alles war auch pünktlich zur Stelle. Einige Eingeweihte waren als Zuhörer erschienen und, von Brahms feurig dirigiert, sangen wir unter der Meisterin Fenster unsere Chöre in die frische Morgenluft hinaus. Aber o weh! Nichts rührte sich in der Villa. Die Jalousien blieben geschlossen. Weder Schumann noch Brahms hatten vermocht, das schlafende Dornröschen zu wecken. Wir Mädchen schlugen vor, abzuziehen, Brahms jedoch hielt stand und wir sangen von neuem die ersten zwei Chöre. Nun endlich wurde im Erdgeschoß ein Fenster geöffnet (die Schlafzimmer lagen im ersten Stocke). Schnell schwang sich von der Veranda aus der damals noch schlanke Brahms auf das Fenster, sprang von da in den Salon und sperrte uns von innen die Türe auf. Wir traten ein, legten schweigend unsere Bouquets auf den Tisch und wollten uns, Dieben gleich, davonschleichen.

Da teilt sich eine Portière und herein schwebt im weißen Morgengewande Madame Viardot. Uns alle umarmend dankt sie für die schöne Ueberraschung und sagt: „Verzeihung, meine Lieben, wir waren gestern auf einer Soiree und sind sehr spät zu Bett gekommen. Wir schliefen noch ganz fest, als wir durch ein Geräusch geweckt wurden. Mein Mann sagt: „Ein Hund bellt!“ steht auf sieht hinaus, da hören wir, daß gesungen wird.“ Herrn Viardots schönes Kompliment versetzte uns in heiterste Stimmung. Wir stellten uns sangesfreudig nochmals auf, wiederholten alle vier Chöre und zogen mit einem musikalischen „Lebe hoch!“ endlich ab.

Der Weg zur Molkenkur führte auf der andern Seite des Berges gegenüber der Villa hinan. Da wir die Meisterin auf der Veranda sahen, machten wir Halt, sangen nochmals den letzten Chor (von Brahms), dann ging es unter Tücherschwenken und Hoch-Rufen weiter. Madame Viardot folgte uns im Garten, mit uns gleichen Schritt haltend, bis sie in der anstoßenden Villa Turgenjew verschwand.

Daß uns hierauf das Frühstück trefflich mundete, wird wohl niemand bezweifeln.

Empfohlene Zitierweise:
Marianne Brandt: Erinnerungen an Pauline Viardot. Neue Freie Presse, Wien 1910, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erinnerungen_an_Pauline_Viardot.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)