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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6

Ein Dompropst vor Gericht.

Erfahrenen Kriminalisten ist es hinlänglich bekannt, daß Sittlichkeitsvergehen ausnahmslos von allen Gesellschaftsklassen begangen werden. Es berührt selbstverständlich ungemein peinlich, wenn Geistliche oder Lehrer vor den Schranken der Justitia erscheinen müssen, um sich wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen mit Schülern oder Schülerinnen zu verantworten. Gelegenheit macht aber nicht nur Diebe, es verleitet auch wohl gewissermaßen zu sittlichen Verfehlungen. Ich bin weit entfernt, unsittliche Handlungen irgendwie entschuldigen zu wollen. Im Gegenteil, ich bin der Ansicht, daß eine strenge Ahndung notwendig ist, wenn ein Gebildeter und gar erst ein Geistlicher oder Lehrer sich an Kindern vergeht. Allein vom menschlichen Standpunkt wird man Geistlichen und Lehrern mildernde Umstände nicht ganz versagen können, wenn man die günstige Gelegenheit in Erwägung zieht. Tout comprendre, c’est tout pardonner (alles verstehen, heißt alles verzeihen), dieser Grundsatz sollte insbesondere bei sittlichen Verfehlungen nicht außer acht gelassen werden. Es wäre vollständig falsch, wenn man behaupten wollte: der Stand der Geistlichen und Lehrer neige besonders zu sittlichen Verfehlungen. Ebenso wie es verfehlt wäre, eine politische Partei für die Straftat eines oder einiger ihrer Zugehörigen verantwortlich zu machen, so ist es im höchsten Grade verwerflich, einer Glaubensgemeinschaft die Straftaten eines ihrer Zugehörigen irgendwie zur Last zu legen. Ich habe es auch gemißbilligt, daß, als im Jahre 1874 der katholische Böttchergeselle Kullmann in Kissingen auf den deutschen

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/107&oldid=- (Version vom 1.8.2018)