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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7

selbstverständlich unter Anwendung der Folter, ein Geständnis abgelegt haben. Die von Heinrich Heine im „Rabbi von Bacharach‘, aus Anlaß der Beschuldigung eines Ritualmordes geschilderte Judenabschlachtung ist allbekannt. In früheren Jahrhunderten waren am Abend vor dem Passahfest, wenn die Juden, nachdem sie aus der Synagoge gekommen waren und sich zwecks Vorlesung der Hagadah zu Tisch setzten, gewaltsame Überfälle, unter der Beschuldigung: es sei ein Christenkind geschlachtet worden, keine Seltenheit. Da an diesem Festabend Wein getrunken wird, so wurde, um die Blutbeschuldigung zu widerlegen, überall Weißwein getrunken. Im neunzehnten Jahrhundert hatte man viele, viele Jahre nichts von Ritualmordbeschuldigungen gehört. Man glaubte, dieses Märchen gehöre nur noch der Geschichte an. Im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts brach jedoch mit der Herrschaft des Sozialistengesetzes (Oktober 1878), eine furchtbare Reaktion über Deutschland herein, die auch sehr bald auf andere Staaten übergriff. Nach Erlaß des Sozialistengesetzes, Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über alle größeren Städte und Industrieorte, herrschte in Deutschland gewissermaßen politische Kirchhofsruhe. Diese Stille, die man zweifellos unangenehm empfand, wurde sehr bald durch eine furchtbare Judenhetze abgelöst. Zunächst machte sich in der deutschen Reichshauptstadt, Ende 1880, eine Judenhetze breit, die stark an die finsteren Zeiten des Mittelalters erinnerte. Es herrschte anscheinend der Glaube: es werde durch die Judenhetze gelingen, der Reaktion ein volkstümliches Mäntelchen umzuhängen und die Arbeiter, die sich gewissermaßen instinktiv zur Sozialdemokratie be- kennen, ins reaktionäre Lager zu führen. Zwei ehemaligen sozialdemokratischen Führern, den auf Grund des „Kleinen Belagerungszustandes‘‘ aus Berlin ausgewiesenen Zimmerer Karl Finn und Maurer Wilhelm Körner, die plötzlich in ihrem Altonaer Exil ihr antisemitisches Herz entdeckt

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_7_(1912).djvu/71&oldid=- (Version vom 28.3.2023)