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erhält den Stempel eines guten, und erlangt eine ihm innewohnende Kraftfülle zum Guten, Phil. 4, 13. Dadurch wird der Mensch tüchtig, tauglich, seine himmlische und irdische Lebensaufgabe zu erfüllen, Kol. 1, 12; 2. Kor. 10, 18. Die Tugend ist das jeweilige Maß der Entschiedenheit für das Gute, d. h. der Willigkeit und Festigkeit des Willens für das Gute und im Guten, wodurch sich das Maß des sittlichen Wertes eines Menschen bestimmt. Die Tugend ist das auf dem dunklen Hintergrund der Sünde wiederhergestellte Ebenbild Gottes, soweit es eben eine Gestalt gewonnen hat. Wo Tugend ist, beginnt sich auch ein christlicher Charakter zu bilden, und er ist im Grunde eins mit ihr und steht im Gegensatz zu dem unmännlichen Schwanken zwischen Gutem und Bösem, zu der sittlichen Entnervung und Verweichlichung, die jede große Anstrengung scheut. Man bezeichnet die Tugend auch als Gesinnungstüchtigkeit im Guten.

 Die Tugend ist eine Tochter der Religion. Die Tugend setzt immer ein Verhältnis zur Wahrheit voraus, eine innere Anerkennung des göttlichen Gesetzes, ein aus der Wahrheit sein. Die Fülle der Wahrheit ist in der geoffenbarten Religion. Tugend und Religion stehen in unmittelbarem und fortgehendem Lebenszusammenhang[.] Nur im Besitz des höchsten Gutes kann der Mensch nach dem höchsten Ziele mit Erfolg streben. In den Besitz des höchsten Gutes kommt er nur durch die Religion. Aufgabe des sittlichen Verhaltens ist, dasselbe zu bewahren und sittlich zu verwerten und auf diesem Wege zum höchsten Ziele zu gelangen, was wieder nichts anderes ist, als das höchste Gut, vollkommen angeeignet und ihm persönlich gleichförmig geworden.


3. Erscheinungsformen der Tugend oder die Tugend in ihren verschiedenen Beziehungen.

 Die Thatsache, daß die Tugenden einen einheitlichen Organismus bilden, hat Veranlassung gegeben zu dem Versuch, die verschiedenen Tugenden von einer bestimmten einzelnen abzuleiten oder in ihr zusammenzufassen. Als solche bieten sich dar der Glaube (nach 2. Petr. 1, 5 etc.) oder die Frömmigkeit (nach 1. Tim. 4, 8), welche als Mutter aller Tugenden bezeichnet wird, oder die dankbare Liebe zu Gott (nach 1. Joh. 4 u. 1. Kor. 13) oder die Treue (nach 1. Petr. 4, 10; 1. Kor. 4, 2; Matth. 25, 14–30). Es ist fraglich, ob der umfassende allgemeine Begriff „Tugend“ durch eine einzelne Erscheinung derselben,