An die Madonnen Murillos denkt man bei Nennung seines Namens immer zuerst. Sie sind nicht in demselben Sinne Idealgestalten, wie die Madonnen Raffaels, mit denen sie gern verglichen werden. Sie stehn der Wirklichkeit näher; Vorbilder des wirklichen Lebens sprechen aus ihnen überall in sehr bestimmten individuellen Zügen, den spanischen Volkstypus zeigen sie aufs lebendigste ausgeprägt. „Murillo nimmt“, wie Justi sagt, „auch wenn er in die Wolken steigt, die Erde und ihre vertrauten Gesichter mit“[1]. Er ist in diesem Sinne auch in seinen visionären Schilderungen naturalistisch, in den „Konzeptionen“, den mystisch glühenden Verklärungsbildern der Madonna nicht weniger, als in jenen einfachen Andachtsgemälden, in denen Maria mit dem Kind in irdischer Umgebung dargestellt ist, den Verehrern vertraulich nahe gerückt; nur tritt hier das Individuelle meist noch entschiedener hervor. Hier aber wie dort, in beiden Gattungen der Marienbilder hat das Madonnenideal, seine religiös-ethische Bedeutung, ergreifend wahren Ausdruck gefunden.
Eines der schönsten jener einfachen Andachtsgemälde ist die dresdner Madonna (s. d. Abb.), eine mädchenhafte Gestalt von reinster, schlichtester Anmut, mit dem Kind auf dem Schoos; ihr Blick ist nach oben gewendet, der Mund weich geöffnet; sie ist ganz hingegeben an das fromme Gefühl des überschwänglichen Glücks, mit dem sie in dem Kinde begnadet ist. Um das Haupt des Knaben, der mit seinen grossen braunglänzenden Augen freundlich aus dem Bilde herausblickt, leuchtet ein feiner goldiger Schimmer. Der Farbenton des Ganzen ist von ausserordentlicher Helligkeit und Zartheit.
An künstlerischer Bedeutung steht dem Velazquez und Murillo unter den spanischen Malern des 17. Jahrhunderts kein andrer näher, als der Valencianer Jusepe de Ribera (geb. 1588, 11 Jahre vor Velazquez, drei Jahrzehnte vor Murillo). Aus der Schule des Francesco Ribalta, eines der ersten, die in der spanischen Malerei die Richtung des 17. Jahrhunderts anbahnten, kam er in noch jugendlichem Alter nach Italien, das er nicht wieder verliess. In Neapel, der Hauptstätte seiner Thätigkeit, starb er 1656. In einer grossen Reihe seiner Werke hat er sich aufs entschiedenste dem Vorbild Caravaggios, der „tenebrosen“ Art des naturalistischen Neuerers angeschlossen; sein künstlerischer Charakter wird aber doch sehr ungenügend bezeichnet, wenn man ihn lediglich einen Nachfolger Caravaggios nennt. In andern Werken offenbart er eine vollkommene Selbständigkeit, sowohl in der geistigen Auffassung, wie in der malerischen Behandlung, die hier von der schwarzschattigen, derben und grellen Manier Caravaggios durchaus nichts an sich hat.
Von den Werken Riberas, die sich in deutschen Gemäldesammlungen befinden, ist ein Bild der dresdner Galerie mit Recht zu besonderm Ruhme gelangt: das Gemälde, in dem man früher eine Darstellung der „Maria von Ägypten“, dann der Maria Magdalena erblickte, das aber zweifellos, wie Justi (in der Zeitschrift für christliche Kunst, Jahrg. 1890, Sp. 1–10) nachgewiesen hat, die heilige Agnes darstellt. (S. d. Abb.) Die Legende, auf die sich die Darstellung bezieht, erzählt, dass die heilige Agnes, als sie, ein dreizehnjähriges römisches Mädchen edler Abkunft die Werbung eines vornehmen heidnischen Jünglings, des Sohnes des Präfectus urbi Symphronius zurückgewiesen hatte, von dem zornigen Vater und Richter vor die Wahl gestellt wurde, entweder mit den gottgeweihten Jungfrauen der Vesta zu opfern oder als Gotteslästerin, entkleidet, in ein Lupanar geschleppt zu werden.
- ↑ C. Justi, Murillo, S. 96.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/123&oldid=- (Version vom 27.12.2024)