nach vorn zieht. Diese Bewegung scheint eine andre vorzubereiten: man hat von dem düstern Manne den Eindruck, als sei er nach Erteilung einer kurzen Audienz im Begriff sich abzuwenden. –Die ganze Gestalt ist von vollendeter Plastik, der im vollen Lichte bewunderungswürdig modellierte Kopf doppelt wirksam durch den Kontrast, in dem er sich von dem Dunkel des Hintergrunds und dem Schwarz des Kostüms abhebt.
Von den dresdner Gemälden Murillos ist das eine ein Stück aus der Reihe jener merkwürdigen Bilder, die er für den kleinen Kreuzgang des Franziskanerklosters in Sevilla malte; sie waren seine erste bedeutende selbständige Arbeit, das Werk, das seinen Ruhm begründete. Bis zu seinem 24. Jahre hatte er in Sevilla in den beengendsten und dunkelsten Verhältnissen gelebt, mit der neuen Kunstbewegung, die sich hier seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts schon an verschiedenen Stellen Bahn gebrochen hatte, war er bis dahin nicht in Berührung gekommen; sein Lehrmeister, Juan de Castillo, war in Sevilla einer der letzten Nachzügler der italianisierenden Richtung gewesen. Jetzt erst, während eines zweijährigen Aufenthaltes in Madrid, unter Velazquez’ Einfluss, hatte er mit der neuen Kunstströmung Fühlung gewonnen, hier erst hatte er sich, in einem freien Kunst- und Naturstudium, von der herkömmlichen Schulmanier völlig befreit und sich selbst gefunden. Als er nach Sevilla zurückgekehrt war, erhielt er den Auftrag für jene Gemälde. Sie erregten sofort ungewöhnliches Aufsehen; „Niemand wusste“, so wird erzählt, „wo er den neuen, meisterlichen und unbekannten Stil her hatte“. In diesen Bildern redete Murillo zum ersten Mal seine eigene Sprache.
Das Franziskanerkloster wurde 1810 von den Franzosen geplündert, ein Teil der Gemälde kam an den Marschall Soult, andere in andern Besitz.[1] Von den drei berühmtesten befindet sich jetzt das eine (der hl. Diego, Almosen spendend) in der Akademie S. Fernando in Madrid, das zweite (die sog. Engelküche) im Louvre in Paris, das dritte, der Tod der heiligen Klara, wurde 1894 von dem Earl of Dudley für die dresdner Galerie erworben.[2] Es war das erste Visionsbild Murillos. Der Reichtum an koloristischen Mitteln, über den er später verfügte, die Farbenmagie seiner späteren Visionsschilderungen stand ihm hier noch nicht zu Gebote; aber im seelischen Ausdruck, in der ergreifenden, menschlich rührenden Weise, wie die übersinnliche Vorstellung versinnlicht ist, in der Wahrheit, Zartheit und Reinheit der Empfindung, die aus der ganzen Darstellung spricht, darin gehört auch dieses Gemälde zu seinen schönsten Werken. In dem Halbdunkel auf der linken Seite des Bildes, von Franziskanern und Klarissinnen umringt, ruht die Heilige auf ihrem Sterbelager, die Hände über der Brust gekreuzt, das todesblasse Antlitz voll seligen Friedens still zurückgeneigt; ein himmlisches Wunder, das ausser ihr nur einer der Schwestern zu schauen gegönnt ist, zeigt sich ihrem brechenden Auge: in dem überirdischen Glanze, der vor ihr das Gemach erfüllt, naht sich der Heiland und die Königin des Himmels, sie abzurufen, begleitet von einem langen Zuge von Jungfrauen in weissen Gewändern, mit Palmen in den Händen; drei der Jungfrauen, die an ihre Lagerstätte herangetreten sind, breiten anmutig feierlich als himmlische Ehrengabe einen goldenen Mantel über das Lager. – Der Christus dieses Bildes in seiner Schlichtheit, Sanftheit und Milde ist eine der rührendsten Gestalten, die der Meister geschaffen hat; die Gestalten der Maria und der Jungfrauen haben schon ganz die murillosche „suavidad“.[3]
- ↑ Ueber die Schicksale dieser 11 Bilder s. B. Cartis, Velazquez und Murillo, London und New-York, 1883, 223-225.
- ↑ S. die Beschreibung der 3 Bilder bei Justi, Murillo, 1892, 5–10.
- ↑ Die Legende vom Tod der hl. Klara, der Stifterin des weiblichen Nebenordens der Franziskaner, erzählt die Inschrift des Bildes: Entre los singulares favores q la Gloriosa Sta Clara Recivio en su vida de Xpto N. Sor fue hallarse a su Dhossa (dichosisima) muerte con su Madre SSa acompañada de Virgines con sus coronas de oro, Bestiduras blancas y palmas en las Manos. Y cabrieron su sagrado cuerpo con un manto traido del cielo (Prodigio q solo sus ojos y los de una Religiosa compañera suya fueron mercedores de Gozarle). (Eine der wunderbaren Gnadenerweisungen, die der hl. Klara zuteil wurden, war es, dass ihr bei ihrem glückseligen Tode Christus mit der heiligsten Mutter erschien, begleitet von Jungfrauen mit goldenen Kronen, in weissen Gewändern, mit Palmen in den Händen; und sie bedeckten ihren heiligen Leib mit einem Mantel, den sie ihr vom Himmel mitgebracht — ein Wunder, das nur ihre Augen und die einer Ordensschwester zu schauen gewürdigt worden.)
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/122&oldid=- (Version vom 27.12.2024)