Der vorraffaelischen Kunst, die der ganzen Barock- und Rokokozeit und dem folgenden Klassizismus fremd blieb, hat sich im Verlaufe unseres Jahrhunderts ein sehr lebhaftes Interesse zugewendet; sie hat in verschiedenen Kreisen, auch in Künstlerkreisen, starke Sympathien erregt. Zu den ersten, die sich für sie begeisterten, gehörten jene deutschen Maler der romantischen Schule, die zu Anfang unseres Jahrhunderts nach Italien pilgerten und die vorraffaelische Malerei hier gleichsam von neuem entdeckten. Bei den Präraffaeliten in England, einer den deutschen Romantikern in mancher Beziehung verwandten Gruppe von Malern, nahm die Verehrung jener alten Malerei bisweilen einen fast fanatischen Charakter an. Für die moderne Forschung ist die gesammte italienische Kunst vom 13. bis zum 15. Jahrhundert recht eigentlich ein Lieblingsgegenstand geworden.
Die Romantiker rechneten diese italienische Frühzeit noch ganz zum Mittelalter; sie erblickten in der Malerei dieser Epoche eine der schönsten Blüten mittelalterlichen Geistes. Wir haben vom Mittelalter eine bestimmtere Anschauung gewonnen und längst erkennen gelernt, dass alles eigentümlichste jener Epoche aus einer Denk- und Anschauungsweise hervorging, die von der mittelalterlichen wesentlich verschieden war, dass schon in jener Epoche die neue Zeit, die Zeit der Renaissance, auf das entschiedenste anhob. Ihre Vorläufer, von denen auf künstlerischem Gebiete Giotto der grösste war, traten schon um die Wende des 13. und 14. Jahrhunderts auf; mit voller Kraft aber und mit
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/17&oldid=- (Version vom 27.12.2024)