voller Entschiedenheit strebte der Geist des neuen Zeitalters seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts über die Schranken der mittelalterlichen Bildung hinaus. Eine neue freiere Weltansicht wurde gewonnen. In der Malerei und Plastik des Quattrocento gewahren wir eine Erschlossenheit des künstlerischen Sinnes für die Natur und die ganze umgebende Welt, wie sie dem Mittelalter völlig fremd war. Die künstlerische Persönlichkeit, die das Mittelalter unter dem Banne strenger Satzungen und traditioneller Anschauungen gefangen hielt, wurde jetzt erst vollkommen selbständig und mündig; in den Werken der Künstler kam ihr eigenes individuelles Denken und Empfinden zum Ausdruck.
Der frei gewordene Blick für die umgebende Welt, deren „Entdeckung“ ein bekanntes geistreiches Wort als eine der Hauptthaten der Renaissance bezeichnet, verlangte und ermöglichte nun erst eine gesteigerte Ausbildung der künstlerischen Form, eine Entwicklung der künstlerischen Formensprache zu gesteigerter Wahrheit und Lebendigkeit. Im eifrigsten, leidenschaftlichen Studium der Natur trachtete man nun die Gesetze ihrer Erscheinungsformen zu ergründen, anatomische Untersuchungen beginnen, die Regeln der Perspektive werden erforscht, unablässig sind die Maler bemüht, die koloristische Technik zu vervollkommnen, um in der bildlichen Darstellung den überzeugenden Schein der Realität zu erreichen. Manche von ihnen gaben sich solchen technischen und kunsttheoretischen Bestrebungen fast ausschliesslich hin.
Die Gegenstände der Darstellung waren zum weitaus grössten Teile die herkömmlichen. Aus den biblischen und legendarischen Erzählungen wurden die künstlerischen Motive, wie bisher, hauptsächlich genommen; aber wie völlig verändert erscheint die Auffassung und Behandlung! Nachdem Giotto die italienische Malerei aus den Fesseln der erstarrten mittelalterlichen Kunstformen befreit und sie mit einem neuen inneren Leben beseelt hatte, war sie in seiner Schule vielfach einem neuen Schematismus verfallen. Jetzt ging man auf dem von Giotto angebahnten Weg weiter. Nirgends mehr ein Anklang an das alte Formenschema byzantinischer Herkunft, überall individuelle, lebensvolle Gestalten, in denen man Selbsterschautes, Selbstempfundenes auszusprechen trachtet. Die räumliche Umgebung der Figuren, die Giotto meist nur andeutend behandelt hatte, wird nun künstlerisch ausgebildet. Häufig werden die biblischen und legendarischen Ereignisse in der malerischen Schilderung ganz unmittelbar in das Leben der damaligen Gegenwart verlegt; Vorgänge der heiligen Geschichte werden geschildert, als ob sie sich eben damals ereignet hätten. Oftmals bilden Hallen oder Gemächer im Stil der Renaissance oder italienische Landschaften den Schauplatz. In solcher Umgebung wurden Christus und die Apostel in der herkömmlichen idealen, der Antike frei nachgeahmten Gewandung dargestellt, die übrigen biblischen Gestalten in der Regel, meist auch die Madonna, im Kostüm der damaligen Zeit. In den oft sehr zahlreichen Nebenfiguren wurden mit Vorliebe bekannte und hervorragende Persönlichkeiten porträtirt.
Mit der äusseren Welt erschien zugleich die innere im Spiegel dieser neu auflebenden Kunst in immer hellerem Licht. Die Behandlung der überlieferten Motive ward immer mehr zur Offenbarung eines reichen seelischen Lebens. Eine rein menschliche Auffassung der heiligen Gestalten ist vorherrschend. Bedeutende Charakterbilder, Seelengemälde, Gestalten von hoher Würde und ernster Männlichkeit, Bilder jungfräulicher Anmut und Seelenreinheit treten uns in den Darstellungen Christi, der Apostel und der Madonna immer lebendiger ausgeprägt entgegen. In den Darstellungen der heiligen
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/18&oldid=- (Version vom 26.12.2024)