Gleichzeitig mit Giorgione und Palma begann Tizian seine Laufbahn: eine Herrschernatur im Gebiete der Kunst, der eigentliche Held dieser höchsten Glanzepoche der venezianischen Malerei. Fast wie ein Wunder steht seine machtvolle Erscheinung in der Geschichte. Nahezu hundert Jahre hat er gelebt (1477–1576), bis zuletzt im Besitz einer fast ungeschwächten schöpferischen Kraft, während der drei Menschenalter, die an ihm vorübergingen, in gleichem Maasse bewundert. Eine grossartig reiche Welt der Schönheit erschliesst sich in seinen Werken, eine Welt voll mächtigen, farbenglühenden Lebens, voll strahlender Pracht, in Schilderungen gesundester Sinnenlust, wie in Werken von hoher geistiger Grösse.
Die innerlich bedeutendsten, die seelenvollsten Bilder des grossen Meisters stammen aus seiner ersten Epoche; sie sind zugleich die feinsten in der Durchführung. Unter den religiösen Bildern dieser früheren Zeit ist keines herrlicher, als das dresdner Gemälde, das unter dem Namen „der Zinsgroschen“ Weltberühmtheit hat (s. die Abbildung). Eine interessante alte Tradition will wissen, dass Tizian dieses Bild im Wetteifer mit Dürer, der sich 1505–6 in Venedig aufhielt, gemalt habe. „Vornehme Deutsche“ – so erzählt Scannelli in seinem Microcosmo[1] – „besuchten einmal das Atelier Tizians, entfernten sich aber nach Besichtigung der vorhandenen Bilder mit Zeichen unbefriedigter Erwartung. Darauf angeredet, hätten sie erklärt, sie kennten nach wie vor nur einen Meister, der seinen Werken die höchste Vollendung zu geben wisse und der sei kein anderer, als ihr Landsmann Dürer. Dies soll Tizian hinterbracht worden sein, der darauf geäussert habe: wenn er die äusserste Detaildurchführung für die höchste künstlerische Vollendung halte, so würde auch er das Uebermaass von Fleiss angewandt haben, das Dürer kennzeichne, aber durch langes Studium und reiche Erfahrung sei er zu der Ueberzeugung gelangt, dass seine Weise der Wahrheit näher käme; deshalb könne er sich nicht entschliessen, von dem breiten und sichern Wege auf einen unsichern und gefahrvollen abzuschweifen; indess bei erster Gelegenheit wolle er etwas scharfen, was darthun werde, wie man alles Einzelne fein und mit grösstem Kunstfleiss ausführen könne, ohne ins Uebermaass zu verfallen. Dieses Werk soll der Zinsgroschen gewesen sein.“
Vielleicht ist diese Erzählung nur eine Fabel, sie hat aber, wenn sie das ist, sicher einen wertvollen geschichtlichen Wahrheitskern. Dürers Auftreten erregte damals in den venezianischen Künstlerkreisen nicht geringes Aufsehn, er fand hier manchen heftigen Gegner, aber auch aufrichtige Bewunderer; wir wissen, welches Lob ihm der alte Giovanni Bellini erteilte. Vor allem war es die Feinheit der Formendurchbildung, durch die seine Arbeiten Bewunderung erweckten[2]. Ueber persönliche Beziehungen Tizians zu Dürer wird nichts berichtet, natürlich aber konnte ihm die Kunst des deutschen Meisters nicht unbekannt bleiben, und dass er von ihr einen tiefen Eindruck empfing, das scheint der Zinsgroschen in der That zu beweisen. Auch ein neuerer italienischer Geschichtsschreiber, Lanzi, bringt das Gemälde mit der Kunstweise Dürers in unmittelbaren Zusammenhang; er bemerkt ausdrücklich, in der Feinheit der Ausführung habe Tizian hier mit Dürer gewetteifert[3]. Noch wahrscheinlicher klingt, was in der Erzählung Scannellis gesagt wird, dass Tizian bei dem Wetteifer mit Dürer habe zeigen wollen, wie bei grösster Feinheit der Durchführung eine übertrieben minutiöse, die Wahrheit der Gesammterscheinung beeinträchtigende Detailbehandlung zu vermeiden sei. Die Behandlungsweise im Zinsgroschen ist von einer Feinheit und Zartheit, wie in keinem andern Werke des Meisters; alles einzelne ist bis auf die Härchen am Arm des Pharisäers mit grösster Sorgfalt ausgeführt, doch so,
- ↑ Scannelli, Il Microcosmo della pittura, Cesena 1657. – S. Crowe und Cavalcaselle, Tizian, Leben und Werke, deutsche Ausgabe von Jordan S. 100.
- ↑ Siehe über die Beziehungen Dürers zur venezianischen Malerei Crowe und Cavalcaselle, Geschichte der italienischen Malerei, V, 175 ff.; Tizian, Leben und Werke, deutsche Ausgabe, S. 88 ff. – Thausing, Dürer, 2. Auflage, I, 362 ff.; Wiener Kunstbriefe, S. 327.
- ↑ Lanzi, Storia pittorica della Italia etc. 3. Ed. III, 102.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/43&oldid=- (Version vom 26.12.2024)