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Seite:Gemäldegalerie Alte Meister (Dresden) Galeriewerk Lücke.djvu/46

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die Tizian in den Bildern seiner späteren Zeit eigen ist. In dem zuerst genannten Porträt ist vermutlich Tizians Tochter Lavinia dargestellt, die sich 1555 mit Cornelio Sarcinelli von Serravalle vermählte; das Fähnchen, das die Dargestellte in der Hand hält, ist ein Fächer, wie ihn Neuvermählte zu tragen pflegten[1]. Das männliche Porträt galt früher irrtümlicher Weise für ein Bildniss des Pietro Aretino. Es hat die Inschrift: MDLXI Anno . . . natus aetatis suae XLVI- Titianus pictor et aeques caesaris. Tizian malte dieses prachtvolle Bildniss sonach in seinem 84ten Jahre (1561). Der Farbenkasten, der vorn auf der Brüstung steht, macht es wahrscheinlich, dass in dieser ernsten und würdevollen Gestalt ein Maler dargestellt ist. – Aus den übrigen grossen Schaffensgebieten des Meisters ist in der Sammlung kein Originalwerk vorhanden. Das schöne, hier reproduzierte Venusbild der Galerie, an dem lange Zeit der Name Tizians glänzte, verdient ohne Zweifel seine Berühmtheit, doch darf jetzt als sicher gelten, dass es nicht von Tizian selbst gemalt ist. Wahrscheinlich ward es in seiner Werkstatt, unter seinen Augen von einem seiner Schüler ausgeführt. Es ist eine freie Wiederholung, eine „Variation“ der unbestritten von Tizians Hand herrührenden Venus mit dem Orgelspieler, die zu den Hauptschätzen des madrider Museums gehört. Aehnliche, in Einzelheiten von einander abweichende Wiederholungen finden sich in verschiedenen Museen, im Haag, in dem Fitzwilliam-Museum in Cambridge und anderwärts. Bemerkenswert ist, dass das dresdner Exemplar schon im vorigen Jahrhundert von dem Venezianer Guarenti, einem trefflichen Kenner der italienischen Malerei, der eine Zeit lang (1746–53) Galerie-Inspektor in Dresden war, für eine Kopie nach Tizian gehalten wurde. Wie fast in allen Venusbildern, die von dem giorgioneschen abstammen, so erscheint auch hier das Landschaftliche als ein malerisch und poetisch mächtig mitwirkender Bestandteil der Komposition. Im Hintergrund breitet sich eine weite sommerliche Landschaft aus, in die man von dem Altane hinausblickt, auf dem die blühende Frauengestalt in unverhüllter Schönheit halb aufgerichtet ruht, ein Amor ihr zu Häupten, der im Begriff ist sie mit einem Blumenkranz zu schmücken, ihr zu Füssen ein junger Mann in der Tracht der damaligen Zeit, mit einer Laute im Arm. Auf der Altanbrüstung vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Notenheft; er hat in seinem Spiel eine Pause gemacht und wendet sich nun mit der Frage, ob er fortfahren soll, nach der schönen Gebieterin zurück, die sich noch ganz dem wohligen Nachgefühl der eben verklungenen Töne überlässt; eine Flöte ruht in ihrer gesenkten Hand. Die stolzeste Unbefangenheit liegt in ihrem Blick, in ihrer ganzen Haltung. Kein Hauch schwüler Sinnlichkeit trübt die Schönheit des Bildes, das eine Stimmung athmet, wie Goethes römische Elegien. Das Kolorit ist von reicher Pracht. Gegen die tiefgestimmten Farben der Landschaft und den dunkeln Purpur des Vorhangs, der rechts von oben nach dem Altan herabhängt, hebt sich der schöne Frauenleib hellleuchtend ab; doch hat der Fleischton nicht die tiefe goldige, wie von Innen heraus strahlende Wärme, die wir in der Karnation tizianscher Gestalten bewundern. Die Behandlung ist von einer gewissen Glätte nicht frei. Das Bild hat nicht die Merkmale von Tizians eigner Hand, aber es zeigt den künstlerischen Charakter des Meisters in einem schönen prächtigen Abglanz.

Unter den venezianischen Malern, die neben Giorgione, Palma und Tizian in zweiter Linie stehen, ist Lorenzo Lotto eine besonders interessante und eigenartige Erscheinung. Anfangs folgte er der Weise Giovanni Bellinis, dessen Schüler er war. Nachher, während eines vielbewegten Wanderlebens, gelangte er zu völlig selbständiger Entwicklung. In seiner Empfindungs- und Anschauungsweise


  1. Morelli, a. a. O. S. 300.
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/46&oldid=- (Version vom 26.12.2024)