und doch so durchdringenden Blick nach dem Frager zurückwendet, indem er mit der Hand auf die Münze deutet. Die vornehme Schönheit dieser Hand in ihrem sprechenden Gegensatz zu der Hand des Pharisäers ist mit Recht von jeher besonders bewundert worden; wie beredt kommt der Kontrast der beiden Gestalten, der Gegensatz von Edlem und Gemeinem auch in der Sprache der Hände zum Ausdruck! Höchst bezeichnend ist zugleich die ganze Bewegung der Figur Christi; der Eindruck ihrer vornehmen Haltung – darauf macht Wilhelm Henke mit feinem Blick aufmerksam – beruht wesentlich mit in der Wendung des Oberkörpers. „Ich möchte behaupten“, sagt Henke, „obgleich ich es nicht beweisen kann, da es ja nicht gemalt ist, dass Christus, nachdem sich der Pharisäer von links hinten an ihn herangemacht, ihn angeredet, ihn mit einem Wort ‚gestellt‘ hat, zwar Kopf und Blick bereitwillig nach ihm herumdreht, dabei aber doch ruhig auf beiden Füssen stehen bleibt und ihn also über die linke Schulter und Hüfte ansieht. Jedenfalls dreht er sich überhaupt nicht viel mit dem Oberkörper herum, sondern biegt nur den Kopf soviel nach ihm hin, als nötig ist, um ihm Antwort zu geben“[1]. Dadurch wird der Ausdruck vornehmer Ruhe, mit dem Christus die verfängliche Interpellation aufnimmt und abweist, in der That wesentlich mitbedingt. Die hohe Schönheit in dem Antlitz dieser rein menschlich aufgefassten Erlösergestalt hat Tizian in keinem spätem Christusbilde wieder erreicht. Unter allen andern Christusgestalten der italienischen Renaissance sind dieser tizianschen nur zwei vergleichbar: der Christus in Leonardos Abendmahl (die Zeichnung in der Brera in Mailand) und die Christusfigur in Raffaels Teppich-Karton der Uebergabe der Schlüssel.
Vasari berichtet, Tizian habe das Bild 1514 für Herzog Alfons I von Ferrara gemalt. Nach der Art der Behandlung ist anzunehmen, dass es in etwas früherer Zeit entstand, um 1508, bald nach Dürers Aufenthalt in Venedig. Zu den Schätzen des herzoglichen Palastes in Ferrara gehörte es noch im Anfang des 17. Jahrhunderts; dann kam es in die modeneser Sammlung, aus der es für Dresden erworben wurde.
Noch ein andres Werk aus Tizians herrlicher Jugendepoche finden wir in der dresdner Galerie: Maria mit dem Kind und vier Heiligen (s. die Abb.). Die beiden Hauptfiguren des Gemäldes sind die Madonna und die heilige Magdalena, diese gekennzeichnet durch ihr Attribut, das Salbgefäss, das sie in der Rechten hält. Die schöne Büsserin, deren feines Profil sich scharf abhebt von der beschatteten Gestalt im Hintergrund, steht mit niedergeschlagenem Auge der Madonna gegenüber, die sich ihr zuneigt mit einem Blick voll reinster mitempfindender und verzeihender Liebe. Unter allen Frauengestalten, die Tizian geschaffen hat, ist keine von einer tieferen und schöneren Empfindung beseelt, als diese Madonna. Welch voller Seelenglanz in ihrem reinen, das Innerste schleierlos offenbarenden Blick! Auf ihrem Schoosse aufgerichtet wendet sich auch der anmutige Christusknabe, gestützt von der markigen Gestalt Johannes des Täufers, freundlich der Büsserin zu; hinter Magdalena und ihr zur Seite stehen als mächtig wirkende Kontrastfiguren der greise Hieronymus und der ernst aus dem Hintergrund hervorblickende Paulus. Mit der Schönheit des seelischen Ausdrucks verbindet sich in diesem wundervollen Bilde eine Farbenschönheit von leuchtendstem Glanze.[2]
Ausser dem Bilde einer heiligen Familie, dessen Echtheit nicht unangefochten ist, besitzt die dresdner Galerie an Gemälden von Tizians eigner Hand nur noch einige Werke aus dem Gebiet der Porträtkunst. Die zwei bedeutendsten sind das Bildniss einer Neuvermählten und ein männliches Bildnisses, (s. d. Abb.), Meisterwerke ersten Ranges, beide in der breiten, freien, kühnen Weise behandelt
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/45&oldid=- (Version vom 26.12.2024)