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Seite:Gemäldegalerie Alte Meister (Dresden) Galeriewerk Lücke.djvu/63

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Die niederländische Schule des 15. und die deutsche des 16. Jahrhunderts


In den Niederlanden vollzog sich zu Anfang des 15. Jahrhunderts – wir haben früher schon darauf hingewiesen – mit dem Auftreten der Brüder Van Eyck in der Malerei ein ähnlicher Umschwung und mächtiger Fortschritt, wie zu derselben Zeit in Florenz mit dem Auftreten Masaccios. Was Masaccio für die italienische Malerei, eben das waren Hubert und Jan van Eyck für die Malerei im germanischen Norden, sie bezeichnen hier, wie jener dort, das eigentliche Ende des Mittelalters, den Anfang der neuen Zeit.

Die niederländische und die florentinische Schule des 15. Jahrhunderts sind trotz aller nationalen Verschiedenheit in Wahrheit geistig verwandte Erscheinungen. In beiden geschieht gleichzeitig der entscheidende Schritt aus den konventionellen Formen des Mittelalters heraus zu einer natur- und lebenswahren Darstellung. Der neu erschlossene Sinn für Natur und Wirklichkeit, die Richtung aufs Individuelle ruft in beiden oftmals Werke von überraschend ähnlichem Charakter hervor. Die religiösen Gegenstände, die hier wie dort das Hauptthema der Darstellung bleiben, werden in ähnlicher Weise aufgefasst, in ähnlichem Sinne in realistischen Formen geschildert. Ueberall werden die mittelalterlichen Typen ins Individuelle umgebildet, die heiligen Gestalten erscheinen im Gewand der damaligen Zeit, auf dem Schauplatz des damaligen Lebens, das ganze Bereich des Sichtbaren wird in den Kreis der malerischen Darstellungen aufgenommen.

In der Verschiedenartigkeit der realen Stoffwelt, die dieser nordischen und südlichen Kunst zu Grunde liegt, beruht ihre Verschiedenheit natürlich zunächst; sie ist aber ebenso sehr in einer Verschiedenheit der künstlerischen Auffassung, des künstlerischen Empfindens begründet. Bestimmter noch und entschiedener, als in der florentinischen Kunst des 15. Jahrhunderts tritt bei den niederländischen Meistern dieser Epoche der Zug zum Individuellen und Charakteristischen hervor; er bleibt ein wesentliches Merkmal der ganzen germanischen Kunst. Welche Fülle und Mannigfaltigkeit individuellen Lebens, welche staunenswerte Schärfe und Feinheit in der Charakteristik der Köpfe zeigen sogleich die Gemälde der Brüder van Eyck. In der Wahrheit und Tiefe des physiognomischen Ausdrucks

Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/63&oldid=- (Version vom 27.12.2024)