offenbart sich die Eigenart und Stärke der germanischen Kunst zunächst und vor allem. Die Körpergestalt, die die Italiener so rasch künstlerisch beherrschen lernen, erscheint hier häufig und lange als ein nur wenig entwickeltes Ausdrucksmittel. Im Verständnis des körperlichen Organismus, im Studium des Nackten, in den anatomischen Kenntnissen bleiben die nordischen Künstler – wenige Ausnahmen abgerechnet – lange Zeit gegen die Italiener weit zurück. Ihr künstlerisches Interesse ist von vornherein nicht in gleichem Maasse, wie das der Italiener, auf die Körperdarstellung gerichtet. Ergreifend aber gelingt ihnen, ein tiefes und inniges Empfinden in den Zügen des Gesichts zum Ausdruck zu bringen. Während in vielen ihrer Werke die Körperbewegung der Gestalten etwas gebundenes, zaghaft befangenes behält, redet das Antlitz oftmals eine um so lebendigere, rührendere, eindringlichere Sprache. Wo in der Bewegung der Figuren ein stärkerer Ausdruck erstrebt wird, verfällt er leicht in ungelenke Uebertreibungen, die den Mangel an künstlerischer Beherrschung der Körperformen nicht weniger deutlich erkennen lassen.
Zu den bedeutsamsten Eigenschaften jener niederländischen Meister gehört sodann die völlig neue Art, in der sie, wie mit neuen Sinnen begabt, die landschaftliche Natur und die ganze äussere Welt auffassen und schildern. Noch reicher und mannigfaltiger, noch eingehender, als in der gleichzeitigen italienischen Malerei, erscheint in ihren Bildern die reale Umgebung der Figuren, bis auf das geringste Beiwerk herab, vor allem aber das Landschaftliche gestaltet. Weit entfernt von einer gleichgiltigen Wirklichkeitskopie bekundet diese eingehende Schilderung der Aussendinge vielmehr die gleiche künstlerische Innigkeit, die sich in dem Gemütsausdruck, in den seelisch individuellen Zügen der Gestalten offenbart. Diese Schilderung der äusseren Welt, der stillen Wohngemächer, der schönen Kirchenhallen, der heimatlichen Fluren und Thäler geht liebevoll bis ins einzelnste, sie zeigt auch das kleinste gleichsam bestrahlt von der Liebe des Künstlers. In dieser sorgfältig feinen Detailbehandlung liegen mit die intimsten Reize der neu erblühten niederländischen Kunst. Nicht selten allerdings führt die Vertiefung ins einzelne zu einer Beeinträchtigung der Gesamtwirkung, die Ueberfülle gleichmässig betonter Einzelheiten lässt oftmals keine recht einheitliche Wirkung aufkommen. Oft fehlt hier der rechte Blick fürs Ganze der Komposition, der den Italienern so frühzeitig eigen ist.
Was aber die Werke der niederländischen Schule des 15. Jahrhunderts zuletzt noch aufs allerglänzendste auszeichnet, was sie in ihrer Art einzig erscheinen lässt, das ist die Behandlung der Farbe. Indem die van Eycks die Öltechnik in einer Weise vervollkommneten und verfeinerten, die für die Tafelmalerei die Bedeutung einer grossen epochemachenden Erfindung hatte, schufen sie sich für ihre neue malerische Anschauung sogleich das gemässeste und glänzendste Darstellungsmittel. Mit der bisher üblichen Temperatechnik waren ihre neuen künstlerischen Ziele nicht zu erreichen. Die feine realistische Durchbildung der malerischen Form, die sie erstrebten, die damit geforderte feine Abstufung und Verschmelzung der Farbentöne ward erst möglich durch die Mittel dieser neuen Öltechnik; zugleich ermöglichte sie erst jenen tiefen Glanz, jene Leuchtkraft und Schönheit der Farbe, die wir in den Werken der van Eycks und ihrer Schule bewundern. Wie das Streben nach einer reicheren, lebenswahren Ausgestaltung der malerischen Erscheinung, so war es vor allem auch die Stimmung einer gesteigerten poetischen Farbenlust, die in dieser neuen Technik das entsprechende Ausdrucksmittel fand.
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/64&oldid=- (Version vom 27.12.2024)