In der dresdner Galerie finden wir die niederländische Schule des 15. Jahrhunderts nur durch ein einziges Originalwerk vertreten, dieses eine aber, der kleine dreiteilige Flügelaltar von Jan van Eyck, gehört zu den kostbarsten Werken aus dieser glänzenden Frühzeit der niederländischen Malerei. (S. d. Abb.) Das Mittelstück zeigt in dem Chorraum einer schön geschmückten Kirchenhalle Maria mit dem Kinde unter hohem Thronhimmel sitzend; die Stufen des Thrones und ein Teil des zierlich getäfelten Fussbodens sind mit einem prächtigen Teppich bedeckt; ein mildes gedämpftes Licht dringt durch die buntfarbigen Fenster der Kirche. Auf der Innenseite des linken Altarflügels ist in einem Nebenschiff der Kirche der Stifter des Bildes dargestellt, knieend mit betend erhobenen Händen, hinter ihm sein Schutzheiliger, der Erzengel Michael in glänzender Rüstung, mit grossen buntgefiederten Fittichen an den Schultern, auf der Innenseite des rechten Altarflügels in einer zweiten Nebenhalle der Kirche die heilige Katharina. Aufs feinste, miniaturartig fein, mit einer unvergleichlichen, man möchte sagen, zärtlichen Sorgfalt sind die drei Bilder durchgeführt. In jeder Einzelheit, in jedem Stück des Kostüms, in jedem Zierat der Architektur, in dem Muster des Teppichs, in den Ornamenten des Baldachins, in jedem Zug bekundet sich die liebevoll sorgfältige Hand des Künstlers. Von welcher Feinheit, vor allem im Gesichtsausdruck, sind die ganz individuellen Gestalten: die schlichte, sanft blickende Madonna mit der reinen, unschuldsvollen Stirn, die demütig fromme Katharina, die anmutige Jünglingsgestalt des heiligen Michael und das Stifterporträt mit den scharf ausgeprägten Zügen. In Haltung und Bewegung haben auch diese Figuren noch etwas gebundenes, der Ausdruck der Empfindung liegt so gut wie gänzlich in den Köpfen. Ueberraschend glücklich ist der nackte Körper des Kindes gebildet, mit einem klaren Formenverständnis, wie es andre niederländische Meister jener Zeit in der Darstellung nackter Körper höchst selten zeigen. Die Farbe ist in ihren mannigfaltigen Lokaltönen aufs schönste zusammengestimmt; das Ganze ist ein wahres Juwel altniederländischer Kunst.
Nach den van Eycks blühte die niederländische Malerei in einer Reihe bedeutender Meister, in Roger van der Weyden, Dirk Bouts, Memling, Gerard David gleichmässig fort bis ans Ende des 15. Jahrhunderts. Auf die Entwicklung der gleichzeitigen Malerei in Deutschland war sie von weitreichendem Einfluss. Die neuen, dem niederländischen Realismus verwandten Bestrebungen, die sich hier seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts schon mehrfach gezeigt hatten, begannen erst unter den Einwirkungen, die von den Niederlanden herkamen, zu erstarken. Zunächst in Köln, dann am Oberrhein, in Schwaben und Franken machten sich solche Einflüsse geltend. Während die kölner Schule in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch bestimmte niederländische Vorbilder so völlig beherrscht ward, dass sie fast jeder selbständigen Eigentümlichkeit verlustig ging, gedieh in Oberdeutschland, das in dieser und der nächstfolgenden Zeit den Hauptschauplatz der deutschen Kunstentwicklung bildete, in den Werken Schongauers, Zeitbloms, Wohlgemuts u. A. unter
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/65&oldid=- (Version vom 27.12.2024)