dem auch hier vielfach tief eingreifenden niederländischen Einfluss eine Malerei von entschieden eigenartigem und mannigfaltigem Charakter. Die künstlerische Höhe der niederländischen erreichte sie auch in ihren besten Leistungen nicht, aber frisches Leben und Ursprünglichkeit ist ihr überall eigen. Im ganzen genommen ist der deutsche Realismus, dem niederländischen gegenüber, von derberer Art; wohl fehlt es auch hier nicht an Zügen einer schlicht zarten Empfindung; aus den späteren Werken Schongauers, des bedeutendsten deutschen Meisters des 15. Jahrhunderts, spricht ein eigener Schönheitssinn, aber das Herbkräftige ist vorherrschend, bisweilen in merkwürdig rauhen und knorrigen, auch karrikierten Formen. Im Streben nach dem Charakteristischen verfingen sich diese deutschen Meister nicht selten in dem blos Sonderbaren und bedeutungslos Abnormen. Ein kräftiger, aber noch mannigfach beschränkter und ungeklärter Realismus ist der vorwiegende Charakter ihrer Werke.
Erst mit dem grossen Aufschwung, den das gesamte geistige Leben in Deutschland zu Anfang des 16. Jahrhunderts nahm, gelangte auch die deutsche Kunst zu einer höheren und freieren Entwicklung. Albrecht Dürer, der grosse Hauptmeister dieser grossen Epoche wuchs unmittelbar aus dem Kunstwesen des 15. Jahrhunderts heraus. Von hier aus ist er, in wunderbarer Selbständigkeit, in seinem innersten Wesen von fremden Einflüssen immer unberührt, zu einer Höhe künstlerischen Schaffens fortgeschritten, auf der er den grossen Künstlern aller Zeiten ganz ebenbürtig erscheint. In seiner markigen Kraft, seinem tiefen Gemüt besass er die Eigenschaften, die der Deutsche am höchsten schätzt. Seine reifsten Gestalten sind vollendete Typen deutschen Wesens, ganz individuell und typisch zugleich.
Von den drei Gemälden Dürers, die die dresdner Galerie besitzt, ist das eine ein Jugendwerk, das ihn in manchen Punkten mit der älteren Kunstweise noch in nahem Zusammenhang zeigt: ein umfängliches Altarbild, das früheste seiner kirchlichen Gemälde. Es entstand höchst wahrscheinlich sehr bald nach seiner Rückkehr von der „Wanderschaft“, die er in den Jahren 1490–94 unternommen hatte. Die Merkmale eines noch angestrengten künstlerischen Ringens sind dem Werke deutlich aufgeprägt, es hat noch vielfache Härten, manches eckige und ungelenke, vielleicht auch sonderbare, woran man beim ersten Anblick leicht Anstoss nimmt. Und doch, wie bedeutend ist Dürers Wesen auch hier schon
Hermann Lücke: Die Königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Franz Hanfstaengl, München 1894, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gem%C3%A4ldegalerie_Alte_Meister_(Dresden)_Galeriewerk_L%C3%BCcke.djvu/66&oldid=- (Version vom 27.12.2024)