Seite:George Sand Indiana.djvu/158

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sie so gut kannte, und erreichte den englischen Garten. Nichts hatte sich verändert; aber die Brücke, deren schmerzlichen Anblick sie fürchtete, war verschwunden, der Lauf des Flusses sogar verändert, alle die Orte, welche an Nouns Tod erinnern konnten, waren nicht wiederzuerkennen.

„Er hat mir diese traurigen Erinnerungen ersparen wollen,“ dachte Indiana.

Auf den Brettern, welche die Stelle der Brücke ersetzten, überschritt sie den Fluß und gelangte in den Garten. Sie mußte stillstehen, denn ihr Herz schlug so heftig, als wollte es springen. Sie erhob die Augen nach dem Fenster ihres ehemaligen Zimmers. O, Glück! hinter den blauen Vorhängen strahlte Licht, Raymon war da! Konnte er denn ein anderes Zimmer bewohnen? Die Tür der heimlichen Treppe war offen.

„Er erwartet mich zu jeder Stunde,“ dachte sie, „er wird glücklich sein, aber kaum überrascht.“

Oben auf der Treppe blieb sie noch einmal stehen, um Atem zu schöpfen; sie beugte sich nieder und blickte durch das Schlüsselloch. Raymon war allein und las. Da saß er, ruhig und schön, die Stirn auf seine weiße Hand gestützt, die sich in seinen schwarzen Haaren verlor.

Indiana stieß heftig die Tür auf.

„Du hast mich erwartet!“ rief sie, auf ihre Knie sinkend, „du hast die Monate, die Tage gezählt! du hast mich gerufen, und da bin ich! Da bin ich! ich sterbe!“

Ihre Gedanken verwirrten sich; unfähig, zu sprechen, schloß sie die Augen, um sie dann zu Raymon zu erheben.

Er war bleich, stumm, unbeweglich, wie vom Blitze getroffen.

„Erkenne mich doch,“ rief sie, „ich bin es, deine Indiana, die du aus der Verbannung gerufen hast und die dreitausend Stunden weit herkommt, um dich zu lieben, dir zu dienen. Bist du mit mir zufrieden?

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/158&oldid=- (Version vom 1.8.2018)